Berlin. . Auf Joachim Gauck, dem künftig ersten Mann Deutschlands, lasten nach den schlechten Erfahrungen mit Horst Köhler und Christian Wulff hohe Erwartungen. Eins ist schon jetzt klar: Ein aalglatter Politiker ist er nicht. Für Angela Merkel könnte der neue Bundespräsident zum Problem werden.

Originell ist es nicht. Dafür ist es wahr: Das Thema des künftigen Präsidenten – oft beschrieben, oft gesagt – ist die Freiheit. „Ich bin so was wie ein reisender Demokratielehrer“, behauptet Joachim Gauck. Als erster Mann im Staat wird er fortan erst recht unterwegs sein.

Seine Wahl ist reine Formsache. Vor Wochen schon fragte die SPD bei ihm an. „Oh Gott, das glaube ich nicht“, war seine erste Reaktion. Gauck war vorgewarnt – nicht vorbereitet. Gestern war denn auch noch unklar, wer ihn betreut und ihn ins Schloss Bellevue begleiten darf. Jetzt, wo die Kandidatur kein Gerücht und nicht bloß eine Möglichkeit ist, sondern der Ernstfall, barmt Gauck, er sei kein „Supermann“. Die Erwartungen lasten auf ihm.

Künftig wird das Land von zwei Ostdeutschen repräsentiert, zwei Protestanten auch, die mit der DDR unterschiedlich umgingen. Angela Merkel arrangierte sich, illusionslos und pragmatisch; man erkennt sie wieder. Gauck war von Kindheit an verstört. Das Trauma seines Lebens ist die Verhaftung und Deportierung seines Vaters, eines Kapitäns, nach Sibirien. In jenen Junitagen 1951 war für den elfjährigen Gauck „Winter im Sommer“. Die Gefühlslage behielt er bei, auch als der Stalinismus sich schon längst erledigt hatte.

Pfarrer in Rostock, Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde

Er werde so lange die Freiheit in hohen Tönen loben, „wie ich die Spätfolgen der Unfreiheit in mir spüre“, schrieb er 2009 in seinen Memoiren.

An der DDR hat er sich ein Leben lang abgearbeitet, erst als aufmüpfiger Pfarrer in Rostock und nach der Einheit dann als erster Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde, die sogar nach ihm benannt wurde.

In seine Memoiren flossen „sehr viele Tränen“ (Gauck), so etwa als er beschreibt, wie er zwei Mal auf Bahnsteig 9 des Rostocker Bahnhofs mit seiner Frau die Söhne verabschiedet, die aus der DDR ausreisen. Als er 2010 durch Buchhandlungen tingelt, meidet er auf Lesungen von „Winter im Sommer“ solche Passagen. Seine Stimme soll ihm nicht versagen.

Die Bitterkeit der Ostdeutschen nach der Einheit

Mit der Tour bringt sich der Theologe ganz nebenbei auf andere Gedanken. Damals war er gerade in der Bundesversammlung Christian Wulff unterlegen. Der Zug für Gauck schien abgefahren. Nun ist er doch angekommen, obwohl er „nie einen Fahrplan gesehen“ habe, wie Gauck einmal sagte.

Wortwitz hat der Mann. Mit dem ersten Berufswunsch (Journalist) lag er nicht falsch. Joachim Gauck kann die Dinge auf den Punkt bringen, zum Beispiel die Bitterkeit vieler Ostdeutscher nach der Einheit: „Sie hatten das Paradies geträumt und wachten auf in Nordrhein-Westfalen.“

Dass die Grünen sich einem Bürgerrechtler verbunden fühlen, erklärt sich von selbst, weniger die Sympathien der SPD. Gauck ist ein konservativer Liberaler. Ein Mann, der Thilo Sarrazins Mut lobt, den Afghanistan-Krieg verteidigt und der die Kapitalismuskritik der Occupy-Bewegung „unsäglich albern“ findet. Wer die Freiheit wolle, der müsse sie auch in der Wirtschaft wollen.

Man kann in diesen Tagen alles in Internet-Blogs lesen, was er zur Vorratsdatenspeicherung sagt („nicht der Beginn des Spitzelstaates“) oder wozu ihm wenig (Sozialpolitik) einfällt. Die Linkspartei kann ihn nicht ertragen.

In seiner Behörde waren viele Stasi-Leute

Frei von Fehlern ist er nicht. 1997 hat Gauck die Regierung falsch über die Zahl früherer Stasi-Leute in seiner Behörde informiert. Er bezifferte sie gegenüber dem Parlament mit mit 15.

In Wahrheit waren es mehr, viel mehr. Doch dürfte die Neigung der Medien gering sein, ihm daraus einen Strick zu drehen. Nicht nach Köhler, nicht nach Wulff und zumal Gauck eine weit verbreitete Sehnsucht erfüllt: Nach einem unkonventionellen, unabhängigen Mann. Er ist vieles, nur ein aalglatter Politiker, das ist er nicht.

Die Macht des Wortes nutzt Gauck brillant

Eine spannende Frage ist, ob das designierte Staatsoberhaupt der Versuchung nachgeben wird, über die politische Klasse herzuziehen. Der Beifall wäre ihm sicher, den Politikverdruss auf den Punkt zu bringen, wäre für ihn eine leichte rhetorische Übung. Schon in seiner Rede zum Tag der Einheit im Jahr 2010 mahnte Gauck, das Land sei nicht nur das, „was kommunikationsscheue und ängstliche Politiker immer wieder mal abbilden, wenn sie aus Furcht vor dem Wähler die Information über das, was sie in der Sache entschieden haben, portionieren, aufhübschen oder gar verschleiern.“

Eine, die portioniert, aufhübscht und verschleiert, in der Euro-Krise etwa, ist Angela Merkel. Die Kanzlerin bekommt mit Gauck einen Präsidenten, der die Macht des Wortes brillant zu nutzen weiß, der unabhängig ist, gerade von Merkel, und der am Ende seiner Amtszeit mit 77 Jahren gewiss nicht um seine Wiederwahl betteln wird. Die Kanzlerin hat ihre Wertschätzung für Gauck nie verhehlt – und sich den Mann auf Distanz gehalten.

Bis jetzt, bis zu Joachim Gaucks Sommer im Winter 2012.