Washington/Fort Meade. Am Freitag beginnt der Prozess gegen den früheren Geheimdienst-Analysten Bradley Manning, der die Internet-Plattform WikiLeaks mit tausenden Dokumenten beliefert hat, die die Kriegsgreuel der US-Truppen im Irak dokumentierten. Für patriotisch gesinnte Amerikaner hat er dafür den Tod verdient. Die Internet feiert Manning für seine Tat.
Freiheitskämpfer oder Landesverräter? Wenn Bradley Manning am Freitag in Handschellen in das Militärgerichtsgebäude von Fort Meade/Maryland nordöstlich von Washington gebracht wird, sind die Lager von Gegnern und Unterstützern sauber getrennt. Die US-Regierung und die überwältigende Mehrheit des Kongresses will den am Samstag 24 Jahre werdenden Soldaten mit dem Pausbackengesicht empfindlich bestraft sehen für jenen Geheimnisverrat, der die Internet-Plattform WikiLeaks 2010 auf einen Schlag weltbekannt machte. Menschenrechtsgruppen, Schriftstellerverbände und Kritiker des politisch-militärischen Komplexes würden dem früheren Geheimdienst-Analysten im Rang eines "Private First Class" am liebsten den Nobelpreis für Zivilcourage verleihen, weil durch ihn grauenhafte Verfehlungen der Amerikaner im Irak öffentlich wurden.
Republikaner verlangen die Todesstrafe
Für die Militärgerichtsbarkeit steht fest, dass der schmächtige Mann aus Oklahoma in 22 Fällen grob gegen soldatische Pflichten verstoßen hatten. Die “Kollaboration mit dem Feind” wiegt dabei am schwersten. So schwer, dass radikale republikanische Abgeordnete nach Mannings Verhaftung 2010 in Kuweit die Todesstrafe verlangten. Dazu wird es laut Pentagon nicht kommen. Manning droht aber Haft bis ans Lebensende.
Rückblick: Ende 2009 ist der von Kindesbeinen mit Computern vertraute Manning im Osten Bagdads stationiert. Er ist schwul. Er fühlt sich unverstanden und gehänselt. Und er zweifelt am Krieg, den sein Land dort führt. Im Internet sucht er nach den Worten seines Anwalts David Coombs Trost und Verständnis. Manning, der sich in der digitalen Welt unter der Kennung “bradass87” bewegt, trifft auf Adrian Lamor, einen in der Szene ebenso bekannten wie berüchtigten Hacker. Man freundet sich irgendwie an. Manning fasst Vertrauen, berichtet Lamo von Ungeheuerlichkeiten, von der die Welt erfahren müsse. “Ich sitzte in der Tinte. Ich bin hier in der Wüste mit hyper-maskulinen, schießwütigen Idioten zusammen”, schreibt Manning, “ich will, dass die Menschen die Wahrheit erkennen können”. Dann gesteht er ein, massenweise geheime Protokolle aus einem militäreigenen Kommunikationsnetz (SIPRNet) abgezweigt zu haben. Die Rede ist von 150 000 Datensätzen über das amerikanische Engagement in Afghanistan und im Irak. Dazu jede Menge vertraulicher diplomatischer Schriftverkehr.
Mit Lady Gaga hinein - mit geheimen Dokumenten 'raus
Wie er das geschafft hat? Erschreckend leicht. Der Soldat nahm nach eigenen Worten eine CD mit Musik von Lady Gaga mit ins Büro, löschte die Lieder und kopierte die Daten darauf. Fertig. Das Material machte er, so der Vorwurf, der Internet-Plattform WikiLeaks zugänglich, deren damaliger Chef Julian Assange im Sommer 2010 erstmals den Vorhang lüftete. Was die Welt zu sehen bekam, war erschütternd. Ein Schwarz-Weiß-Video, aufgenommen 2007 mit der Bordkamera eines Blackhawk-Hubschraubers über Bagdad. Nach zwei Minuten Horror sind irrtümlicherweise 11 Zivilisten, darunter zwei Journalisten der Agentur Reuters, tot. Hingerichtet von einem US-Kommando, das mit zynischen Kommentaren die Hinrichtungen der “Bastarde” feiert.
Später bringen Assange und seine Leute Tausende geheimer Depeschen von US-Botschaften weltweit in Umlauf. Auch diese Daten seien via Manning, der sich selbst des “größten Datenklaus in der Geschichte “ rühmte, öffentlich verfügbar geworden sein. Als Adrian Lamor ihn verpfeift, wird Manning über Nacht vom unscheinbaren Soldaten zum Staatsfeind. Die Zeit seit Mai 2010 verbringt der Sohn einer walisischen Mutter in Hochsicherheitsgefängnissen wie Quantico und Fort Leavenworth. Unter Bedingungen, die über 50 EU-Parlamentarier und Menschenrechtsorganisationen Petitionen und Briefe an Präsident Obama schreiben lassen. Vergebens. Manning wird 23 Stunden pro Tag in Einzelhaft gehalten, muss sich jeden Abend nackt ausziehen und nachts wegen angeblicher Selbstmordgefahr einen speziellen Overall tragen.
Obama und Hillary Clinton als Zeugen geladen
In der für mehrere Tage angesetzten Anhörung, die offiziell über die Aufnahme eines Gerichtsverfahrens entscheidet, will die Anklage Manning als geltungssüchtigen Landesverräter darstellen, der ein Risiko für die nationale Sicherheit darstellt. Eine Einschätzung, der selbst hohe Militärs inzwischen widersprechen. So brisant, heißt es, sei das Daten-Material überhaupt nicht gewesen. Verteidiger Coombs hat 48 Zeugen benannt; darunter Präsident Obama und Außenministerin Hillary Clinton. Er will den Nachweis führen, dass sein Mandant dem Militärdienst nie gewachsen war und frühzeitiger Hilfe bedurft hätte. Dass Manning die Durchstechereien an WikiLeaks selbst durchgeführt hat, ist noch nicht zweifelsfrei erwiesen. Knapp 2,5 Millionen Internet-Nutzer von Verteidigungs- und Außenministerium haben potenziell Zugriff auf das Netz, aus dem die Daten stammten. Ein Verbrechen wollen Teile der Internet-Gemeinde die bisher 400 000 Dollar für den Häftling gesammelt haben und morgen in Fort Meade für die Freilassung protestieren werden, in Mannings Verhalten nicht erkennen.
Vor wenigen Tagen bekamen die Fürsprecher prominente Unterstützung. Daniel Ellsberg, der Anfang der 70er Jahre die geheimen “Pentagon Papiere” an die Presse gab und so das wahre Ausmaß des Vietnam-Krieges öffentlich machte, bezeichnet Manning “uneingeschränkt als Helden, der unseren Dank und unsere Bewunderung verdient hat”.
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