Moskau. . Der Widerstand gegen die offenbar manipulierten Duma-Wahlen organisiert sich über Facebook. Nach der elfjährigen Herrschaft von Wladimir Putin wandelt sich der Missmut in Protest. In Moskau werden bereits Militär- und Polizeikräfte zusammengezogen.
Die Gruppe in Facebook heißt „Am Samstag auf dem Platz der Revolution“. Mittwochs hatten sich für den „Event“ 14 000 Leute eingetragen, am Donnerstagmittag waren es 24.000, am Abend 31.000. Sie alle wollen am Samstag auf dem Platz der Revolution im Moskauer Stadtzentrum gegen die manipulierten Duma-Wahlen demonstrieren. Und vermutlich werden sie wieder skandieren: „Russland ohne Putin“.
Als Revolutionäre fühlen sich die meisten von ihnen nicht. „Kein Extremismus“, fordert einer auf der Seite der Facebook-Gruppe. „Wir sind friedliche Bürger, die faire Wahlen verlangen!“ In Europa oder den USA sei es ganz gewöhnlich, den Verkehr zu blockieren, um für Gehaltserhöhungen zu demonstrieren, schreibt ein anderer. „An einer genehmigten Kundgebung teilnehmen, dass ist kein blutiger Umsturz, keine sinnlose und grausame Revolte.“
Moralischer Aufstand
Russland geht auf die Straße. Elf Jahre herrschten Ruhe und Wladimir Putin. Massiver Betrug bei den Duma-Wahlen am Sonntag hat den wachsenden, aber passiven Missmut an Putins Regime in offenen Protest verwandelt. Täglich wird demonstriert, in Moskau oder Machatschkala, in Jekaterin- oder Petersburg. Schon haben Kremlpropagandisten und Putin selbst hinter den Kundgebungen „Signale“ aus den USA bemerkt. In Moskau werden Militär- und Polizeikräfte zusammengezogen. Auf Facebook aber ruft der Blogger Arsen Rewasow „Schneerevolution“ aus und fordert alle auf, weiß zu tragen. „Ich bin sicher, wenn einige Millionen Moskauer sich weiße Bändchen umbinden, wird alles gut werden, schnell und ohne Gewalt.“
Die neue Bewegung wirkt unpolitisch bis zur Zufälligkeit. „Ich wollte eigentlich in den Fitnessklub, aber hier ist es interessanter“, erklärte die Teilnehmerin der Moskauer Mittwochdemonstration. Zwar werden die Kundgebungen meist von politischen Oppositionsgruppen wie „Solidarnost“ oder „Anderes Russland“ organisiert. Aber weder deren liberale Ideologie interessieren sie noch der antikaukasische Patriotismus der Nationalisten.
Stimm- und Melkvieh
„Die neue Opposition besitzt noch keine strategischen Ziele“, sagt der Politologe Stanislaw Belkowski unserer Zeitung. „Sie kämpft um faire Wahlen, also um die Möglichkeit, überhaupt irgendwelche politischen Ziele zu erreichen“. Keine Parteidisziplin organisiert diese Bewegung, sondern das Internet. Es motiviert sie auch, mit Videos von dreisten Betrügereien bei den Wahlen, unverschämten Übergriffen der Polizei und peinlichen Putin-Auftritten. Studenten, Angestellte, Unternehmer, junge Eltern, sie alle haben die Nase voll von ihrem Staat, der sie als Stimm- und Melkvieh betrachtet.
Wenn sie einen Held haben, dann den Blogger Alexej Nawalny, der nicht als Politiker bekannt wurde, sondern als Einzelkämpfer gegen die staatliche Korruption. Der 35-jährige Jurist aus Moskau – verheiratet, zwei Kinder – begann seinen Feldzug gegen Missstände in Russland im Jahr 2007. Sein Blog ist mittlerweile einer der meistgelesenen Blogs in Russland. Seit Montag sitzt er in Haft, weil er an Protesten teilgenommen hat. 15 Tage muss er dort bleiben wegen „Nichtbefolgung einer Anordnung der Vertreter der Staatsmacht“.
Die Menschen, die auf die Straße gehen, „fühlen sich von diesem Staat moralisch entfremdet bis angewidert“, sagt der Menschenrechtler Ewgeni Ichlow. „Ihre Revolution ist nicht politisch, sondern moralisch.“ In Moskau wurden gestern die ersten Leute mit weißen Bändchen und Kokarden gesehen.