Essen. Wie tief ist der Verfassungsschutz in den braunen Terror verstrickt? Die Bild-Zeitung behauptet, ein hessischer Geheimdienstler sei bei sechs von neun Morden in der Nähe gewesen. Ermittler und Verfassungsschutz bestreiten das.

Es ist der neunte und nach heutigem Stand letzte der Bosporus-Morde, Tatort ist ein Telefon- und Internetcafé in Kassel. Ein 25 Quadratmeter großer Raum mit Computern, dazu ein kleiner Vorraum mit zwei Telefonzellen auf der linken Seite, rechts ein Tresen. Halit Y. steht hinter diesem Tresen, als er am 6. April 2006 gegen 17 Uhr von zwei Kopfschüssen getötet wird, abgefeuert aus einer Ceska 83, Kaliber 7,65. Halit Y. gehörte das Café, er war 21 Jahre alt und deutscher Staatsbürger türkischer Herkunft. Als Halit Y. stirbt, sind sechs Zeugen in der Nähe: Fünf Erwachsene und ein Kind.

Auf einen Presseaufruf meldet sich ein einziger Zeuge nicht. Erst am 21. April, 15 Tage später, macht die Kriminalpolizei Kassel den sechsten Zeugen ausfindig: Er ist operativ tätiger Beamter des hessischen Verfassungsschutzes, Außenstelle Nord, Abteilung für Ausländerextremismus. Weil er sich nicht von sich aus als Zeuge gemeldet hat, ist er den Ermittlern sofort verdächtig.

Fachliteratur zum Thema Serienmorde

Der Mann rechtfertigt sich später damit, weder sein Dienstherr, noch seine hochschwangere Frau hätten wissen sollen, dass er sich in dem Internetcafé aufgehalten habe: Er chattete im Netz mit anderen Frauen. Als die Kriminalpolizei die Wohnung des Verfassungsschutzbeamten durchsucht, findet sie mehrere legale Waffen – allerdings nicht die Tatwaffe. Die Ermittler entdecken auch Fachliteratur zum Thema Serienmorde. Anschließend befragt die Polizei den Verdächtigen 24 Stunden lang. Der Verfassungsschutzmann behauptet jedoch, von der Tat nichts mitbekommen zu haben.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Kassel hat angeblich nur ein einziger Zeuge überhaupt so etwas wie Schüsse gehört: Weil die Täter offenbar mit Schalldämpfer töteten, hörten sich die Schüsse für den Zeugen wie platzende Luftballons an. Im Nachhinein fällt es den Ermittlern schwer, den Tatzeitpunkt exakt einzugrenzen. Es sei nicht möglich gewesen, dem Verfassungsschutzbeamten nachzuweisen, dass er während der Tat vor Ort war.

Die Beweise reichen nicht

In einer zweiten Vernehmung erzählte einer der übrigen fünf Zeugen, den Verfassungsschutzmann mit einer Tüte in der Nähe des Tatortes gesehen zu haben. Bei den Morden der rechten Terrorgruppe soll jeweils durch eine Tüte hindurch geschossen worden sein, um die Patronenhülsen aufzufangen. “Die Aussage war aber wenig verlässlich: Zwischendurch gab es zum Beispiel Berichte in den Medien”, sagt Götz Wied von der Staatanwaltschaft Kassel.

Die Beweise reichen der Staatsanwaltschaft damals nicht, um den Mann zu verhaften. Der Mordverdacht führt allerdings zur Suspendierung beim Verfassungsschutz. Der Mann wird in eine andere hessische Behörde versetzt. Angeblich ist das mit ihm abgesprochen. Wie soll er auch in Zukunft operativ tätig werden, wenn in Polizeiakten und Behördenkreisen dieser Verdacht und sein Klarname kursieren?

Alibi bei vier von acht Morden

Jetzt berichtet die Bild-Zeitung, ein Bewegungsprofil der Polizei habe ergeben, dass der Agent “bei sechs der neun Morde in der Nähe des Tatortes” war. Die Ermittler hätten dem Angeklagten dabei sogar entlastend ausgelegt, dass er nur bei sechs und nicht bei allen neun Morden in der Nähe gewesen sei. Ein Skandal, schreibt die Bild.

Die Staatsanwaltschaft Kassel bestreitet das. Die Ermittler hätten untersucht, wo er sich zur Tatzeit der übrigen acht Morde aufgehalten hatte. “Das war schwierig, weil die Taten zum Teil fast sechs Jahre zurücklagen”, sagt Staatsanwalt Götz Wied. Bei vier von acht Morden habe der Beamte jedoch ein hundertprozentiges Alibi gehabt. Bei den anderen vier Morden habe man nicht ganz feststellen können, wo sich der Verdächtige zum Tatzeitpunkt aufgehalten hatte. Das heiße im Umkehrschluss aber nicht, dass er am Tatort gewesen sei, sagt Staatsanwalt Wied. “Der Anfangsverdacht hat sich nicht erhärtet.” Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen am 8. Januar 2007 ein.

Auch das hessische Landesamt für Verfassungsschutz widerspricht den Bild-Berichten: “Dafür gibt es überhaupt keinen Anhaltspunkt.”

Obwohl seit Januar 2007 keine neuen Erkenntnisse vorliegen, wird nach Angaben der Behörden jetzt noch einmal alles untersucht. Ermittelt hatten damals Kriminalpolizisten der von den Morden betroffenen Regionen, das Bundeskriminalamt und die Besondere Aufbauorganisation Bosporus in Nürnberg. Keine der drei Stellen wollte sich zu den aktuellen Ermittlungen äußern, zuständig ist seit einigen Tagen der Generalbundesanwalt in Karlsruhe. Dieser hat auf die Fragen von DerWesten bislang noch nicht geantwortet.

Nur zwei Tage vor dem Kasseler Mord an Halit Y. war in der Dortmunder Nordstadt ein Kioskbesitzer getötet worden.