Berlin. Beim Parteitag der Christdemokraten in Leipzig schwört CDU-Chefin Angela Merkel die Delegierten auf Europa und den Mindestlohn ein. Und die CDU ist ihrer Chefin nicht gewachsen: Zur Parteitagsrede melden sich gerade mal drei Kritiker zu Wort.

Zur FDP fällt ihr nichts ein. Auf die SPD haut sie nicht drauf. Keine Mätzchen. Nur die CDU zählt. Die habe stets alte Antworten überprüft und „mit dem Sinn für die Realitäten des Lebens“ erneuert. „Das macht die Stärke der CDU aus“, sagt Angela Merkel. Redet sie über die CDU oder über sich selbst?

Die CDU ist ihrer Chefin nicht gewachsen. Zur Parteitagsrede in Leipzig melden sich gerade mal drei Kritiker zu Wort. Einer stört sich am Betreuungsgeld. Ein anderer beklagt die hohen Schulden. Der letzte sorgt sich, dass die Politik die Europäische Zentralbank anzapfen könnte. Der Rest ist Gefolgschaft. Lang anhaltender stehender Beifall.

Es gibt allerdings Parteifreunde, die Merkel zu nahe kommen können. Helmut Kohl ist so ein Beispiel. Im Sommer hatte er einen „Kompass“ vermisst. Die Kritik scheint die Chefin mehr umzutreiben, als sie zugeben mag. Es kann kein Zufall sein, dass sie in ihrer Rede immerzu auf den Begriff zurückkommt.

Mit dem Kompass ist es so eine Sache. Die Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit bleiben immer gleich. Sie sind der Kompass. Aber der Kontext, so Merkel, verändere sich. Die Chefin gibt sich Mühe, zu erklären, warum ihre Regierung die Wehrpflicht aussetzt, aus der Atomkraft aussteigt, die Hauptschule abwickelt und sich jetzt mit Mindestlöhnen anfreundet.

Merkels Antworten der Reihe nach: Weil zuletzt nur noch 13 Prozent eines Jahrgangs für die Bundeswehr eingezogen wurden; „Fukushima“ ein Umdenken erzwang; die Hauptschule ein Auslaufmodell ist; der Sittenverfall auf dem Arbeitsmarkt die CDU empört.

Den Mindestlohn hat Merkel ursprünglich nicht gewollt. Aber als sie erkannte, dass sie den Tarifpartnern Beine machen muss, hat sie reagiert und sich persönlich um den Antragstext für den Parteitag gekümmert.

Sie überlässt ungern etwas dem Zufall. Als Karl-Josef Laumann auf dem Podium in der Leipziger Messehalle im Bild steht, schiebt sie ihn zur Seite, so dass die Fotografen alle im Blick haben: Merkel, den Chef der Sozialausschüsse und Arbeitsministerin Ursula von der Leyen. Alle zusammen – und Merkel im Mittelpunkt.

Leipzig ist ein spezieller Ort für Merkels CDU. Zum dritten Mal hält sie hier einen Parteitag ab. 2003 verabschiedete man ein neoliberales Programm, das heute ein Torso ist. Mit dem Mindestlohn schlägt das Pendel in die andere Richtung um. Der „Rechenschaftsbericht“ wird diesmal dem Anspruch gerecht: Merkel wollte sich rechtfertigen.

Ein Quantum Trost

Das Zahnrad der Zeit dreht sich aber weiter. Die CDU bekommt keine Veränderungspause. Ihre Kanzlerin will jetzt einen neuen „Durchbruch“ für Europa.

Merkel will Schluss machen mit den Schulden, mit einem Denken, das „kein Morgen kennt“. Sie will Strafen für Schuldensünder, die EU stärken, Kompetenzen abtreten und die Grenzen der Nationalstaaten überwinden.

Kurzum: Sich einmischen. Merkel ist jetzt irgendwie die Kanzlerin aller Europäer. Irische Sorgen seien slowakische Sorgen, „es sind unserer aller Sorge.“ Es sind Versatzstücke einer Rede, die sie letzte Woche in Berlin hielt. Der Generalschlüssel, der Zugang zu Merkels Politik: Die Realität. „Alleine richten wir in der Welt wenig aus.“ Was sie damit sagen will: Nur im Chor der Europäer hat Deutschland noch etwas zu melden.

Deswegen will Merkel den Euro retten, unbedingt. Sie betrachtet es als die „Herausforderung“ ihrer politischen Generation.

Sie hat erst gezögert. Aber nun fühlt sich Merkel berufen, einen „Wendepunkt“ herbeizuführen. „Wir leben in Zeiten epochaler Veränderungen.“ Es gibt dabei keinen Sonderweg der CDU oder der Deutschen. Schwer zu sagen, ob alle 1001 Delegierten das wirklich verstanden haben. Aber immerhin haben sie die Welterklärerin in ihren Reihen. Ein Quantum Trost.