Berlin. . Soll für eine stärkere Europäische Union das Grundgesetz geändert werden? Ohne neuen Vertrag, so glaubt jedenfalls Kanzlerin Angela Merkel, ist die EU “nicht lebensfähig“. Eine Analyse.

Als Konsequenz aus der Schuldenkrise drängt Kanzlerin Angela Merkel (CDU) auf eine Revision der EU-Verträge. Sie erwägt auch den Verzicht auf weitere nationale Kompetenzen. Wie die WAZ am Freitag in Berlin erfuhr, lotet eine Gruppe von Merkel-Vertrauten unter Führung von Kanzleramtschef Ronald Pofalla (CDU) aus, ob und wie das Grundgesetz geändert werden müsste.

Selbst eine neue Verfassung ist kein Tabu mehr. Dazu müsste aber das Volk befragt werden, gibt CDU-Vorstandsmitglied Armin Laschet zu bedenken.

„Wenn wir langfristig die politische Union Europas ­vollenden, dann wird auch der Zeitpunkt kommen, dies mit einer Volksabstimmung grundgesetzlich zu verankern“, sagte Laschet der WAZ. Dem Karlsruher Verfassungsgericht warf er eine zuletzt „latent euroskeptische Haltung“ vor. Am Montag und Dienstag soll ein CDU-Parteitag über die EU-Politik diskutieren.

Eine Arbeitsgruppe, die es gar nicht gibt

Ohne neuen Vertrag ist die EU für Angela Merkel „nicht lebensfähig“. Norbert Röttgen weiß das und was daraus folgt, wenn man Kompetenzen abtritt: „Zumindest müssten wir unsere Verfassung ändern.“ Röttgen gehört einer Gruppe an, die es offiziell gar nicht gibt. Sie soll im Auftrag der Kanzlerin ausloten, wie viel Europa im Rahmen des Grundgesetzes geht und ob das Volk befragt werden müsste.

Es ist das anspruchsvollste Projekt seit der Einführung des Euro und undenkbar ohne die Krise. Sie hat Defizite aufgedeckt: Bei den Banken, in der Wirtschaft und zuletzt auch in der Politik.

Chance erkannt

Mit der Schuldenpolitik sei der „Augenblick zur Umkehr“, sagt Merkel. Die Verschuldung sei ein Beispiel für „ein Denken, das kein Morgen kennt.“ Es sei an der Zeit für einen „Durchbruch“. Sie will mehr Integration und nationale Souveränitätsrechte relativieren. „Irische Sorgen sind slowakische Sorgen, spanische Sorgen sind deutsche Sorgen.“ Merkel: „Unsere Verantwortung endet jedenfalls nicht an den Grenzen unserer Länder“.

Was Merkel nicht sagt: Dann müssten die 17 Länder des Euro-Raums vorangehen. Und die EU der 27 verlöre an Bedeutung. Die Briten bekamen es bereits zu spüren.

Das Geld der Deutschen

Der Rettungsfonds EFSF reicht für Griechenland - nicht jedoch, wenn Italien oder Spanien ins Straucheln geraten. Der leichte Weg wäre es, die Europäische Zentralbank (EZB) anzuzapfen; aber mit dem Risiko, die Inflation anzuheizen. Der Bundesbank-Präsident wäre machtlos. Seine Stimme ist im EZB-Rat genauso viel Wert wie die seiner Kollegen aus Zypern oder Malta.

Und genau hier setzt eine Gruppe von CDU-Politikern an: Wer mehr Wirtschaftskraft hat, soll in der EZB mehr zu sagen haben. Künftig solle nicht nach Köpfen, sondern nach dem Gewicht der Volkswirtschaften abgestimmt werden, meint der Abgeordnete Jürgen Hardt aus NRW. Über solche „gewichtete Stimmen“ entscheidet ein CDU-Parteitag.

Am deutschen Wesen...

Im Grunde will Merkel deutsche Stabilitätspolitik auf Europa übertragen. Ein Achtungserfolg: Die „Schuldenbremse“ nach deutschem Vorbild in Spanien. Merkel will mehr. Noch hält sie sich bedeckt.

CDU-Vize Röttgen und Ursula von der Leyen reden Klartext, und der Antrag für den CDU-Parteitag ist weitreichend. Man will Sparkommissare auf die Schuldensünder ansetzen. Röttgen würde die Brüsseler Kommission stärker vom EU-Parlament kontrollieren und den Ratspräsidenten direkt vom Volk wählen lassen. Von der Leyen will die „Vereinigten Staaten von Europa“. Spöttisch folgt die „Welt“ dem CDU-Wettlauf: „Wer ist der beste Europäer?“

Merkels Jungs

Das Grundgesetz ist ausgereizt. Mehr Kernkompetenzen nach Brüssel abzutreten, würde das Karlsruher Verfassungsgericht blockieren. Kaum hatte sie diese Botschaft zwischen den Zeilen eines Interviews von Präsident Andreas Voßkuhle gelesen, da reagierte Merkel. Sie bat ihren Kanzleramtschef Ronald Pofalla, auszuloten, was im Rahmen der Verfassung möglich ist; wo man sie ändern müsste und wo eine Totalrevison fällig wäre.

Zum Kreis um Pofalla zählen neben Röttgen lauter Merkel-Vertraute: Staatsminister Eckard von Klaeden, CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe, dazu Peter Altmeier, der Fraktionsmanager.

Und wo bleibt das Volk?

Die SPD-Opposition ist nicht das Problem, eher Richter Voßkuhle. Über ein neues Grundgesetz müsste das Volk abstimmen. So steht es in Artikel 146. Röttgen hält sich bedeckt. Er weiß aber, „als Eliteprojekt hat Europa keine Chance“, sagte er dem „Stern“. „Wir müssten im Europa mehr Demokratie wagen.“ Der Entscheid der FDP-Mitglieder über die Euro-Rettung ist wie ein Referendum in Bonsai-Größe.

Für Januar 2012 wird das nächste Urteil zum Euro-Krisenmanagement erwartet. Wird Merkels Spielraum dann begrenzt? Dass eine „neue Begründung für Europa“ (Röttgen) ein Politikum ersten Ranges ist, weiß die Kanzlerin nicht erst, seit Gerüchte über eine neue Partei durch Berlin wabern. Der CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach bestätigte der „Zeit“, dass ihm ein Angebot gemacht wurde. Zwar lehnte er ab. Dass just ein „Euro-Rebell“ rekrutiert werden sollte, ist ein aber Signal.

Da suchen einige wohl das Endspiel um Europa.