Paris. Plötzlich war die Nachricht in der Welt: Die Ratingagentur Standard & Poor's hatte Frankreich die Top-Bonität AAA entzogen. Zwar stellte sich die Meldung als “technischer Fehler“ heraus, doch da hatten die Finanzmärkte längst reagiert. Frankreich musste für geliehenes Geld deutlich mehr Zinsen zahlen. Die Wut auf die Agentur in Paris ist entsprechend groß.

Der Donnerstag hatte für Frankreichs Regierung schon schlecht begonnen. In Brüssel bescheinigte EU-Währungskommissar Olli Rehn der zweitgrößten Volkswirtschaft Europas ein äußerst bescheidenes Wachstum für 2012 von lediglich 0,6 Prozent. Schon wieder ein Rückschlag: Denn zwei Wochen zuvor hatte Präsident Nicolas Sarkozy die Prognose bereits von 1,75 auf 1 Prozent herabgestuft. Dann platzte am Nachmittag eine Bombe ganz anderen Kalibers. Die New Yorker Ratingagentur "Standard & Poor's" erkannte Frankreich versehentlich die Top-Bonität ab, um erst Stunden später Entwarnung zu geben. Es habe sich um einen bedauerlichen Irrtum gehandelt, teilte die Agentur mit, und fügte hinzu: "Die Note der Republik Frankreich ist unverändert bei AAA."

Die Mitteilung sei aus Versehen per E-Mail an einige Abonnenten der "Standard & Poor's"-Internetseite geschickt worden, hieß es. Ein "technischer Fehler" sei Ursache des Missgeschicks gewesen, die exakte Untersuchung der Fehlerquelle sei eingeleitet.

Verheerende Auswirkungen für den Euro und Europa

Doch es ist wie mit der Zahnpasta, die einmal herausgedrückt ist: Man kriegt sie nicht mehr in die Tube zurück. Nur geht es hier nicht um einen banalen weißen Klecks, sondern um die Bonität eines ganzen Landes - und letzten Endes sogar um die Zukunft des Euro. Sollte Frankreich nämlich wirklich von "Triple A" auf "Double A" heruntergestuft werden, wären die Auswirkungen für den europäischen Rettungsschirm EFSF verheerend. Frankreich müsste für seinen Schuldendienst höhere Kosten aufbringen und wäre wohl nicht mehr in der Lage, die schwere Last des Rettungsfonds mitzutragen. Deutschland und Frankreich, die zusammen 50 Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung erwirtschaften, steuern 440 Milliarden zum EFSF bei. Würde Frankreich in die Knie sinken, geriete schlagartig die gesamte Euro-Rettung in Gefahr. Musterknabe Deutschland müsste die Last schlimmstenfalls alleine schultern: eine Herkules-Aufgabe.

Die New Yorker Ratingagentur bemühte sich um Schadensbegrenzung. Doch mit einer schlichten Richtigstellung war die Panne schon nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Denn inmitten der schweren Finanzkrise reagieren die Märkte so hochnervös wie scheue Rehe. Deshalb hätte der Zeitpunkt des Fehlalarms kaum ungünstiger sein können. Schon unmittelbar zuvor waren die Risikoaufschläge für französische Staatsanleihen angestiegen, die Panne auf den Finanzmärkten löste dann erst recht große Unruhe aus. Die französischen Papiere wurden mit deutlich gestiegenen Risikoaufschlägen gehandelt, zehnjährige Staatstitel legen sogar einen Sprung von 0,3 Prozentpunkten hin. Am Freitag beruhigte sich der französische Anleihemarkt nur leicht.

"Ziemlich schockierend", was die Agentur da geleistet hat

Frankreich in Not: Nach turbulenten Krisentagen hatte sich die Regierung eigentlich auf ein verlängertes Wochenende eingestellt. Am 11. November begeht das Land den Waffenstillstand von 1918, der den Ersten Weltkrieg beendete und die Niederlage des Deutschen Reiches besiegelte. Doch von einem besinnlichen Feiertag konnte keine Rede sein. Im Gegenteil: Frankreichs Finanzpolitiker standen zuerst unter Schock, dann entlud sich der geballte Zorn gegen die ohnehin ungeliebte Rating-Branche. Schon am Donnerstagabend griff Finanzminister François Baroin "Standard & Poor's" scharf an. Als "ziemlich schockierend" brandmarkte er die Falschmeldung, zugleich leitete die französische Finanzmarktaufsicht AMF eine Untersuchung ein. Jean-François Copé, Chef der Präsidentenpartei UMP, stand seinem Minister bei, indem er das Gebaren der Ratingagentur als "desolat" kritisierte.

Unterdessen wird auch der Ruf nach Schadensersatz laut. "Die Regierung muss nicht nur eine Entschuldigung verlangen, sondern eine sehr hohe Strafe", sagte der Wirtschaftswissenschaftler Christian Saint-Etienne gegenüber dem Nachrichtensender BFM-TV. In Brüssel griff EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier die Agenturen ebenfalls an, der Franzose sprach von einem "schwerwiegenden Vorfall".

Bundestag will Macht der Ratingagenturen beschränken

Auch auf der anderen Rheinseite löst die verheerende Falschmeldung von "Standard & Poor's" helle Empörung aus. Während sich zahlreiche Finanzmarktspezialisten über den Fehltritt wundern, sprach sich der Bundestag dafür aus, die Macht der Ratingagenturen zu beschränken und neue Haftungsregeln einzuführen. Schon zu Beginn der griechischen Finanzkrise waren die amerikanischen Bonitätsprüfer in die Schusslinie geraten. Um einen Gegenpol zu den US-Agenturen zu schaffen, dringen namhafte Experten in den EU-Ländern seitdem darauf, eine eigene europäische Ratingagentur zu gründen. Die resolute EU-Justizkommissarin Viviane Reding ging in diesem Sommer noch weiter. Nachdem die US-Agenturen italienische und spanische Anleihen herabgestuft hatten, schlug die Luxemburgerin vor, die amerikanischen Agenturen zu zerschlagen. "Europa darf sich den Euro nicht von drei US-Privatunternehmen kaputtmachen lassen", sagte sie in einem Zeitungsinterview.

Finanzanalysten hingegen halten gar nichts von einer stärkeren Kontrolle der Kontrolleure oder gar von einer völligen Entmachtung der Bonitätsprüfer. Sie schieben den Schwarzen Peter den Politikern zu, weil diese die öffentlichen Haushalte in fahrlässiger Weise in die Schuldenfalle manövriert hätten. "Agenturen und Märkte sind nicht schuld an der Krise, sie halten den Politikern nur den Spiegel vor", sagt ein Pariser Bankanalyst dieser Zeitung. Die Rechtfertigung von "Standard & Poor's", es habe sich in der jüngsten Panne um ein "Versehen" gehandelt, hält der Analyst darüber hinaus für "absolut unglaubwürdig". Vielmehr fuße Frankreichs Bestnote schon seit geraumer Zeit "auf einem hohlen Pfeiler". "Es sieht eher so aus, als sei die Mitteilung nur zu früh verschickt worden", sagt der Finanzfachmann.

Frankreich droht tatsächlich eine Abstufung

Tatsächlich geriet Frankreich schon Mitte Oktober ins Visier, als die Agentur Moody's" eine strenge Bonitätsprüfung androhte. Zur selben Zeit waren auch führende französische Großbanken, zumal solche, die sich mit griechischen Anleihen übernommen haben, ins Gerede gekommen. Wie sehr die Regierung in Paris ein schlechtes Bonitätszeugnis fürchtet, zeigen die beiden drastische Sparpläne, die innerhalb kurzer Zeit aufgelegt wurden. Auf das erste 12-Mrd-Sparpaket folgte vor wenigen Tagen ein 65-Mrd-Paket, das bis 2016 laufen soll. Aufgrund ständig sinkender Wachstumsprognosen drohen akute Mindereinnahmen von rund 20 Milliarden. Die Regierung reagierte darauf mit Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen. "Das Wort Bankrott ist nicht mehr abstrakt", warnte Premierminister François Fillon, der vom größten Sparprogramm seit dem Zweiten Weltkrieg sprach.

Für die französische Malaise macht der Bankanalyst neben dem schwachen Wachstum vor allem die Neuverschuldung verantwortlich. Auch die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der französischen Wirtschaft sowie die schleppende Reform der Sozialsysteme trügen zu der Abwärtsspirale bei. Nach den strengen Maastrichter Stabilitätskriterien darf die Neuverschuldung 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht überschreiten. Doch in Frankreich liegt sie bei 5 Prozent. Es ist mittlerweile vierzig Jahre her, dass sich Frankreich nicht neu verschulden musste.

Zufall oder nicht: Der französische Politiker Jacques Attali, einst Mitterrand-Berater und danach Präsident der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, hatte sein Land am Donnerstag ebenfalls an den Pranger gestellt. In einem Interview mit der Wirtschaftszeitung "La Tribune" sagte der renommierte Wirtschaftswissenschaftler: "Machen wir uns nichts vor: Auf den Finanzmärkten haben die Schulden schon lange kein AAA mehr." Ähnlich denkt übrigens auch die Mehrheit der Leser der Hauptstadtzeitung "Le Parisien", der auflagenstärksten des Landes. Auf die "Frage des Tages", ob sie eine Herabstufung von Frankreichs Top-Bonität befürchten, antworteten 63,1 Prozent mit "Oui".