Essen. . Experten sind sich einig: Der CDU-Politiker ist zurecht über seine Affäre mit einer 16-Jährigen gestolpert. Die Gesellschaft ist zwar toleranter gegenüber ihren Politikern geworden. Eskapaden lassen sich jedoch auch kaum mehr vertuschen.

Der Weltbanker und das Zimmermädchen. Der amerikanische Präsident und die Praktikantin. Sein italienischer Kollege und die minderjährige Prostituierte. Die Liste lässt sich fortsetzen mit Repräsentanten aus aller Welt.

Es sind Männer mit ihren Groupies. Männer, die sich mit Macht und/oder Geld nehmen, was sie wollen. Die schon mal Gerichte beschäftigen und sich doch meist juristisch unbescholten „aus der Affäre“ ziehen.

"Die Macht des einen ist die Ohnmacht des anderen"

Der Fall des aufstrebenden Politikers Christian von Boetticher mutet in diesem Zusammenhang wohl eher provinziell an – und doch, sagt der Sexualwissenschaftler Jakob Pastötter, ließen sich auffällige Parallelen finden. „Für viele Politiker und Spitzenmanager ist es kaum mehr möglich, Menschen als gleichwertiges Ge­genüber wahrzunehmen“, sagt der Professor. Wer sich angewöhnt habe, mit Macht, Intrigen und Beziehungen zum Ziel zu kommen, der handele auch im Privatleben kaum anders. „Die Macht des einen ist die Ohnmacht des anderen“, sagt er.

Pastötter regt sich auf über den Fall Boetticher. Über den Spitzenpolitiker, der über Facebook mit einer Jugendlichen anbandelt, sie überhäuft mit Mails und Kurznachrichten – und sie dann aus Karrieregründen fallen lässt.

Eine Facebook-Affäre als "Liebesbeziehung"?

Das Internet sei ideal für den Aufbau solcher Beziehungen. „Man kann im Netz ganz wunderbar verführen“, sagt der Wissenschaftler. Ob man schwitze, hungrig oder müde sei – das werde im Netz nicht sichtbar. „Es ist ideal für Medienpersönlichkeiten.“

Unglaublich sei, dass von Boetticher die Facebook-Affäre als „Liebesbeziehung“ beschreibe. „Wenn er so spricht, dann weiß er nicht, was wahre Liebe samt ihrer Verantwortung füreinander bedeutet“, sagt Pastötter.

Trennung aus Angst um die Karriere

Dass von Boetticher die Beziehung aus Angst, sie könne die Karriere gefährden, beendete, ist auch für den Politikexperten Ulrich von Alemann besonders verwerflich: „Von Boetticher hatte also durchaus das Bewusstsein darüber, dass die Beziehung nicht in Ordnung ist.“ Der Kieler Politiker habe mit dem 16-jährigen Mädchen eine Grenze überschritten, und darüber sei er zurecht gestolpert.

So eindeutig diese Affäre abgelehnt wird: Auf der anderen Seite seien inzwischen die Wähler viel toleranter bei der Bewertung des Liebeslebens der Spitzenpolitiker. So habe selbst die konservative CSU-Klientel Horst Seehofer den Seitensprung verziehen, aus dem sogar ein Kind hervorging. Auch die Scheidung des Bundespräsidenten Christian Wulf, der in einer Patchwork-Familie lebt, sei inzwischen akzeptiert – „in den USA ist ein geschiedener Präsident nicht vorstellbar“, sagt von Alemann.

Schürzenjäger Strauß

Dass die Gesellschaft toleranter mit Sexualität und unterschiedlichen Lebensformen umgeht – dafür gibt es viele Belege. SPD-Mann Klaus Wowereit etwa, der noch als Regierender Bürgermeister in Berlin die Geschäfte führt, machte sich mit dem Satz: „Ich bin schwul – und das ist gut so“ zur Legende. Auch der ehemalige Erste Bürgermeister in Hamburg, Ole von Beust (CDU), stolperte nicht über seine Homosexualität. Zurück trat er allerdings nach einer verlorenen Volksabstimmung über die Reform des Schulsystems – und kurz bevor das jugendliche Alter seines Partners (19) bekannt wurde.

Politiker dürfen sich durchaus mehr erlauben. Die Kehrseite: Affären, wie sie ein als „Schürzenjäger“ verschriener Willy Brandt auslebte oder auch ein Franz Josef Strauß, der Anfang der 70er-Jahre Kontakte zum New Yorker Prostituiertenmilieu hatte, bleiben heute nicht mehr im Verborgenen.

Was bekannt ist, wird häufiger als früher auch berichtet. Bisweilen schonungslos.