London. . Der Fall Murdoch offenbart den gigantischen Einfluss der Boulevard-Blätter auf die Regierenden in London. Wer an der Macht bleiben will, muss die Medienkönige milde stimmen. Bei der Beschaffung von informationen sind alle Tabus gefallen.
Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen: Premier David Cameron gibt sich in diesen Tagen alle Mühe, auf Distanz zu den in Verruf geratenen Boulevardzeitungen zu gehen. Das nimmt ihm auf der Insel freilich niemand ab: Revolverblätter üben mit ihren sechs Millionen Lesern schon lange gigantischen Einfluss auf die Politik aus. Wer an der Macht bleiben will, muss die Medienkönige milde stimmen.
Fast ein Ringkampf
Mit Tony Blair hat die Symbiose von Boulevardblättern und Politikern, halb Umarmung, halb Ringkampf, zwar nicht angefangen, aber sie ist seitdem blendend dokumentiert worden. 1995 flog der damalige Oppositionschef von London bis nach Australien, um mit Rupert Murdoch nett zu plaudern. Eines wollte der gewiefte Labour-Mann verhindern: Dass die Sun, mit über drei Millionen Lesern Murdochs stärkstes Boulevardblatt, seine Kandidatur für die Downing Street torpediert.
Vorgänger Neil Kinnock hatte 1992 auf bittere Weise lernen müssen, dass man es sich mit dem Mogul besser nicht verscherzt. „Wenn Kinnock heute gewinnt, würde dann der Letzte, der Großbritannien verlässt, bitte das Licht ausmachen?“, titelte die Sun am Wahltag auf der Titelseite. Kinnock verlor, die Konservativen fuhren den Sieg ein. Wobei es zwei Sieger gab, was auch die Redaktion wusste: „Es war die SUN, die’s für Euch gewonnen hat“ textete sie am Tag danach. Die vierte Gewalt im Staat strotzte vor Macht und sah auch keinen Grund, diese Anmaßung zu verstecken.
Häme und Seitenhieben auf die Konservativen
Wem die Sun gewogen war, das wusste Blair, dem war auch das Volk gewogen. 15 Jahre lang stand das Murdoch-Blatt Labour zur Seite – erst ihm, dann Gordon Brown. Mit Häme und Seitenhieben auf die Konservativen vermittelte die Sun ihren sozial schwachen Lesern, dass sie sich zwar über Zuwanderung und Hungerlöhne aufregen dürfen, ihr Frust aber bei Labour immer noch am besten aufgehoben ist. 2010 war es vorbei mit dem Schmusekurs: „Er hat’s versemmelt“ titelte die Sun über den Schotten Brown und setzte ihren Klassiker als Überschrift dazu: „Wenn Brown heute gewinnt, könnte der Letzte, der das Land verlässt, bitte das Licht ausmachen?“
Browns Niederlage war danach keine Überraschung; auch wenn Rupert Murdoch vergangene Woche doch noch einmal erstaunliche Details nachlieferte. Er sei, als er Cameron zum Sieg gratulieren wollte, durch den Hintereingang der 10 Downing Street zum Tee hereingebeten worden: „Sicher nur, um die Fotografen an der Haustür zu vermeiden.“ Sicher auch, um zu verschleiern, dass die Regierung – so unappetitlich peinlich ihr der Boulevard auch ist – längst Komplize einer Institution ist, die ganz ohne Mandat Angst verbreitet.
3000 illegale Einbrüche in die Privatsphäre Prominenter
Wozu das übersteigerte mediale Selbstbewusstsein führt, auf nationaler Bühne mitmischen zu dürfen, zeigt die lange Liste an Grenzüberschreitungen durch die „News of the World“. Abgehörte Telefone, gelöschte Mailbox-Nachrichten von Toten, gehackte E-Mails, entwendete Patienten- und Steuerakten – die Journalisten traten auf wie die Kriminalpolizei, mit der sie selbstverständlich auch befreundet waren. Doch die Vorwürfe sind lang bekannt, und das ist eigentlich der wahre Skandal. Schon 2006 monierte der Datenschutzbeauftragte der Regierung, dass er über 3000 illegale Einbrüche in die Privatsphäre Prominenter verzeichnet hat. Bei einem Privatdetektiv hatten 305 Journalisten von fast allen britischen Zeitungen Hacking- und Spähdienste gebucht. Gestört hat das niemanden. Im Gegenteil: Die fünf Boulevardzeitungen werden täglich von sechs Millionen Briten am Kiosk gekauft.
Die Arbeitsweise der Redaktionen ist bisher als notwendig akzeptiert worden – Korruption bei der Fifa, Charles’ Tampon-Zwiegespräch mit Camilla oder der fragwürdige erotische Stil eines Max Mosley: Keine dieser Pikantheiten wäre durch die normalen Arbeitsmittel eines Journalisten aufgedeckt worden. Dass die Kampagnen, die der britische Boulevard für oder gegen Politiker, Gesetze oder den Rest der Welt fährt, meist bewusst einseitig und schlecht getarnte Appelle an niedere Instinkte sind, macht sie so gefährlich. Nirgendwo wüsste man das besser als in Deutschland.
Die Nazi-Vergleiche der Murdoch-Blätter sind legendär – egal, ob es um Fußball oder Krieg geht. Fritzl, befand die Sun, konnte sich nur in Österreich abspielen, weil das Land seine Nazi-Vergangenheit nicht aufgearbeitet habe.
Bürger bespitzelt
Solche Unterhaltung kann Karrieren zerstören, aber es heizt zuerst den Kioskverkauf an – einzige Absatzquelle britischer Verleger. Blätter brauchen die intimsten Geheimnisse von Stars, Royals und Sportlern, weil sie an ihnen wachsen. Wie sie daran kommen, hat bei britischen Lesern nie für moralische Entrüstung gesorgt – bis klar wurde, dass auch sie – ganz normale Bürger – bespitzelt worden sind.