Essen/Berlin. . SPD-Chef Gabriel löst mit seinen Äußerungen über die Attentate in Norwegen eine neue „Nährboden-Debatte“ aus. Forscher und Politiker pflichten ihm bei: Islamfeindlichkeit ist ein Nährboden für Extremismus und Gewalt. Wie gefährlich ist Thilo Sarrazins Buch?
Es gibt einen großen Sumpf, auf dem böse Blüten gedeihen. Dieses Bild findet Prof. Wolfgang Benz vom Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin, wenn er von dem ideologischen Nährboden für die Morde in Norwegen spricht.
Will sagen: Anders Behring Breivik war kein Außerirdischer, er kam nicht aus dem Nichts. Sein Gedankengut, das er auf 1500 Seiten dargelegt hat, ist eine extreme Stimme in dem ideologischen Chor, der sich in den vergangenen Jahren immer stärker Gehör verschafft hat. Breivik sieht sich als Widerstandskämpfer gegen Toleranz, Einwanderung, Gleichberechtigung, Multikulturalismus und Political Correctness.
Dies wird Sigmar Gabriel gemeint haben, als er sagte: „In so einem Klima, in so einem Gebräu, gibt es eben auch Verrückte, die dann meinen, dass sie für alle sprechen.“ Und ausdrücklich erwähnte er den Namen Sarrazin. Damit löste Gabriel eine neue „Nährboden-Debatte“ aus.
„Sarrazin und andere haben ein Klima vorbereitet, das dem Äußersten günstig ist“
Sarrazin („Deutschland schafft sich ab“) eine indirekte Mitschuld an den Massenmorden in Norwegen zu geben, das gehe eindeutig zu weit, sagt der Rechtsextremismusforscher Prof. Klaus Ahlheim. „Aber natürlich haben Sarrazin und andere ein Klima vorbereitet, das dem Äußersten günstig ist“, sagt Ahlheim der WAZ. Sarrazin habe das rassistische Denken in den öffentlichen Diskurs eingespeist, fremdenfeindlichen Vorurteilen und tief sitzenden Ressentiments eine „seriöse“ Stimme gegeben. Mit seinen Thesen von besserem und schlechterem Erbgut sei Sarrazin nah an den Gedanken, die man in der Nazi-Literatur zuhauf finde.
Ähnlich sieht es Prof. Benz: „Das ist ein Nährboden, das ist richtig.“ In weniger extremer Form sei Breiviks Gedankengut längst in der bürgerlichen Mitte angekommen. „Das beweist der Erfolg von Sarrazins Buch“. Auch in der Mitte der Gesellschaft finde man die Angst vor der Überfremdung, vor einer Unterwanderung Europas durch den Islam. Ideologen greifen diese Thesen auf und bezeichnen sie als Probleme, die man endlich lösen müsse. Benz: „Der Sumpf ist nicht unbedingt Schuld an den Blüten, die auf ihm gedeihen. Aber ohne den Sumpf gäbe es diese Blüten nicht.“
Die neuerliche Klage, nach den Attentaten würden wieder Denk- und Sprachverbote errichtet, man dürfe sich nicht mehr kritisch über Islamismus und Migration äußern, ohne in Breiviks Nähe gerückt zu werden, sei Unsinn, finden Ahlheim und Benz. „Das ist ein typisch rechtes Argumentationsmuster: Man wird ja wohl noch sagen dürfen...“, so Benz. Es werde ein vermeintliches Tabu aufgebaut, gegen das der „neue Volkstribun“ dann mutig ankämpfen könne. „Es gibt keine Denkverbote“, sagt Ahlheim. „Ausgerechnet die Rechte kann sich nicht beklagen, sie käme nicht zu Wort.“
Keine Denkverbote
Das sieht der frühere NRW-Integrationsminister Armin Laschet (CDU) ähnlich: „Es ist für Sarrazin und andere typisch, von Denkverboten zu sprechen. Tatsache ist: In Deutschland wird jeden Tag alles gesagt.“ Laut Laschet gehört die Meinung von Thilo Sarrazin oder auch die von Henryk M. Broder zur normalen Meinungsfreiheit. „Ich teile viele Thesen Sarrazins nicht, aber sie sind kein Nährboden für solche Gewalt. Ein viel größeres Problem sind Internet-Blogs wie politically incorrect oder Nürnberg 2.0’, die gegen friedliche Muslime hetzen. Da müsste der Verfassungsschutz genauer hinsehen. Die Betreiber solcher Seiten verwandeln Sarrazins Thesen in Brachialsprache.“
Sarrazins Sprüche
Die Hetze im Internet ist auch für den CSU-Innenexperten im Bundestag, Hans-Peter Uhl, nicht hinnehmbar: „Wir brauchen eine konsequente Verfolgung und Bestrafung bei Volksverhetzung im Internet. Rechtlich ist das längst möglich, doch sind Verurteilungen wegen Volksverhetzung via Internet bisher nicht bekannt geworden. Das Internet ist ein fast strafverfolgungsfreier Raum“, sagte Uhl dieser Zeitung. Er habe Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) gebeten, bei den Justizministern der Länder nachzufragen, wie oft sie im letzten Jahr gegen Volksverhetzung im Internet vorgegangen sind. Uhl: „Ich möchte wissen, warum sich bei den Strafverfolgungsbehörden so wenig tut.“
Die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth stellt sich hinter SPD-Chef Gabriel: „Er hat Recht, wenn er dazu auffordert, dass wir in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft eine geschlossene Haltung brauchen – so wie sie Ministerpräsident Stoltenberg in Norwegen praktiziert. Wir brauchen eine Kultur der Offenheit, Freiheit und Verständigung zwischen den Menschen unterschiedlicher Kulturen.“ Wer sage, die Muslime würden sich nicht integrieren und wären unserer Kultur nicht ebenbürtig, der nähre den„antiislamischen Geist“.