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Nur wenige Gutachter fanden im Vergewaltigungs-Prozess gegen Jörg Kachelmann eine so deutliche Sprache wie er. Für Klaus Püschel, den Hamburger Rechtsmediziner, gab es keinen Zweifel daran, dass die Blutergüsse an den Oberschenkeln von Claudia D. nicht von Kachelmanns Knien stammen konnten, sondern vielmehr vom vermeintlichen Opfer wie auch immer selbst produziert worden seien. Püschel, der eine Ambulanz für Gewaltopfer leitet, gilt als Experte für Selbstverletzungen und sagt: „Falschbezichtigungen gibt es heute viel häufiger als früher!“
Hier Jörg Kachelmann, dort Dominique Strauss-Kahn. Der eine wurde unlängst aus Mangel an Beweisen freigesprochen, der andere ist nun, nach über sechs Wochen Haft und Hausarrest, nach einem weltweit für Aufsehen sorgenden Skandal, freigekommen. In beiden Fällen gibt es erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit des mutmaßlichen Opfers. Täter? Opfer? Wer ist was? Auch bei Dominique Strauss-Kahn gab es gegensätzliche Aussagen, auch in diesem Kriminalfall geht es um die Frage: Wer lügt da?
Die Zahl steigt
„In einem Viertel bis einem Drittel der Fälle, die in unserer Ambulanz untersucht werden, handelt es sich um Falschaussagen“, sagt Rechtsmediziner Klaus Püschel. Warum diese Zahl in den vergangenen Jahren angestiegen sei, welche gesellschaftliche Entwicklung dem zugrunde liegt, könne er nicht beurteilen, er stelle lediglich die Tatsachen fest. Zu denen gehörten auch die Gründe für Falschaussagen. Mal wolle das Opfer einem anderen schaden, manchmal sich nur interessant machen, dann gebe es Personen, die psychisch auffällig seien und Aufmerksamkeit suchten.
Auch der Kieler Rechtspsychologe Günter Köhnken kennt solche Fälle, ist spezialisiert darauf, die Glaubwürdigkeit von Opfern und Zeugen zu untersuchen. Vor Jahren bedankte sich ein Richter ausdrücklich bei ihm, seine Analyse habe das Gericht vor einem Fehlurteil bewahrt. Es ging um sexuellen Missbrauch von Kindern. Ein bis dahin völlig unbescholtener Mann war angeklagt, die vermeintliche Tat lag viele Jahre zurück. Köhnken deckte auf, dass die Klägerin den Missbrauch nicht wirklich erlebt hatte, sondern sich ihn nach einer psychischen Krise als Ursache allen Übels zurechtgelegt und über Jahre immer wieder vorgestellt habe – bis sie selbst daran glaubte.
Lügen enttarnen
„In weniger als 50 Prozent der Fälle, in denen ich als Gutachter hinzugezogen werde, ist der Vorwurf nicht durch die Wahrheit abgesichert. Aber man muss dazu sagen, dass ich ja nur gefragt werde, wenn es ohnehin schon Zweifel an der Aussage des mutmaßlichen Opfers gibt“, sagt Köhnken. So komme es vor, dass eine Frau nach einem sexuellen Ausrutscher aus Angst vor dem Ehemann eine Nötigung vortäusche. Er habe auch Jugendliche erlebt, die zu spät nach Hause gekommen seien und dann eine Vergewaltigung auf dem Parkplatz vorgetäuscht hätten. „Die Jugendlichen wollen gar nicht andere in Schwierigkeiten bringen, sondern sich selbst reinwaschen“, sagt Köhnken.
Solche Lügen zu enttarnen gelänge mit einer standardisierten Methode, bei der die verschiedenen Aussagen verglichen würden. „Eine wahre Geschichte wird oft sprunghaft erzählt. Das liegt daran, dass dem Opfer plötzlich noch ein Detail einfällt. Eine erdachte Geschichte wird eher chronologisch erzählt, weil sie genau so konstruiert wurde“, erklärt Köhnken.
Als Alibi benutzt
Die Mitarbeiter in der Gewaltopfer-Ambulanz an der Uniklinik Hamburg-Eppendorf fühlten sich wegen der zunehmenden Falschaussagen „manchmal als Alibi benutzt, nach dem Motto: Ich war sogar beim Arzt“, erklärt Klaus Püschel. Um solche Falschaussagen zu entlarven, gälte es, die Diskrepanz zwischen den Schilderungen und dem Bild der Verletzungen wie der Spuren sorgfältig zu analysieren.
Im Fall Strauss-Kahn könne er, Püschel, sich vorstellen, dass es sich bei dem Zimmermädchen (32) um eine „Frau mit krimineller Energie handele, die mit Strauss-Kahn Sex gehabt und dann erkannt habe, dass sie daraus Kapital schlagen könne“. Ganz so eindeutig mag der Rechtspsychologe Köhnken die Geschichte nicht bewerten: „Auch wenn die Frau in anderen Fällen schon häufig gelogen hat, ist das kein Automatismus, dass sie auch bei den sexuellen Handlungen die Unwahrheit gesagt hat.“
Noch jedoch weiß man relativ wenig über die Gründe, den ehemaligen IWF-Chef freizulassen. Doch die Staatsanwaltschaft hat zugestimmt – das spricht für sich.