Diyarbakir. . Das politische Schicksal des türkischen Premiers entscheidet sich bei der Parlamentswahl am Sonntag in der Kurdenregion. Erdogan strebt eine Zweidrittelmehrheit und eine Präsidialverfassung an, doch die kurdischen Kandidaten könnten Sitze gewinnen.
„Leute, wir sind doch Brüder!“, ruft der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan in die Menge. Aber das scheint nicht alle im Publikum zu überzeugen. Hier, in der Kurdenmetropole Diyarbakir, hören die meisten Menschen auf andere Politiker. Auf Leyla Zana zum Beispiel. Und die sagt den Kurden: „Erdogan hat Euch betrogen!“
Der Südosten der Türkei ist zunehmend unruhig. Der Kurdenkonflikt flammt wieder auf. Der Wahlkampf wurde von mehreren Anschlägen überschattet, die der militanten PKK zugeschrieben werden. Rund 5000 Polizisten schirmten Erdogan bei seinem Wahlkampfauftritt ab, auf Hausdächern waren Scharfschützen in Stellung gegangen. Reisen in die Kurdenregion sind für die Politiker aus dem Westen des Landes ein Sicherheitsrisiko. Aber Erdogan muss es eingehen. Denn bei der Parlamentswahl am Sonntag könnte sich hier sein politisches Schicksal entscheiden. Erdogans erklärtes Ziel ist eine Zweidrittelmehrheit im nächsten Parlament. Sie soll es ihm ermöglichen, eine Präsidialverfassung einzuführen, mit ihm selbst als Staatschef. Nur wenn Erdogan in der Kurdenregion möglichst viele Stimmen bekommt, kann sich dieser Traum erfüllen.
Der ehemalige Hoffnungsträger hat die Kurden enttäuscht
2007 konnte Erdogans islamisch-konservative Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) immerhin in acht der 14 Kurdenprovinzen gewinnen. Für viele Kurden war Erdogan damals ein Hoffnungsträger. Inzwischen ist die Zuversicht in Enttäuschung umgeschlagen. Erdogans Initiative zur Lösung der Kurdenfrage ist gescheitert. Kurdische Sendungen im regierungstreuen Staatskanal TRT, einige kurdische Sprachschulen, viel mehr ist nicht dabei herausgekommen. Die politische Autonomie, die viele Kurden wollen, bleibt eine Fata Morgana. Abdullah Öcalan, der inhaftierte Führer der Guerillaorganisation PKK, meldet sich mit düsteren Prophezeiungen aus seiner Einzelzelle auf der Gefängnisinsel Imrali: am 15. Juni, dem Mittwoch nach der Wahl, müsse „entweder ein ernsthafter Verhandlungsprozess oder ein großer, heiliger Krieg“ für die Lösung des Kurdenproblems beginnen.
Erdogan: Es gibt keine Kurdenfrage mehr
Es gebe gar keine Kurdenfrage mehr, behauptet Erdogan jetzt kühn. Danach sieht es allerdings nicht aus. Als Erdogan jetzt die Kurdenstädte Sirnak und Hakkari besuchte, machten die Händler aus Protest ihre Läden zu, die Männer der Straßenreinigung weigerten sich, den Müll abzufahren. In Hakkari kamen nur etwa tausend Zuhörer zu Erdogans Kundgebung. Der Premier versprach ihnen Schulen, Krankenhäuser, Bewässerungsanlagen und moderne Wohnungen. Aber das hat man hier in jedem Wahlkampf gehört. Zwei Kurden hat Erdogan in seinem Kabinett, Finanzminister Mehmet Simsek und Landwirtschaftsminister Mehdi Eker. Doch auch das scheint die meisten Kurden nicht für den Premier und seine AKP einzunehmen. Die Wirklichkeit im Südosten sieht trist aus. Seit Erdogans Amtsantritt vor über acht Jahren hat sich zwar das statistische Pro-Kopf-Einkommen in der Türkei fast verdreifacht. Aber in der Kurdenregion erreicht es nicht einmal die Hälfte des Landesdurchschnitts. In Diyarbakir betrage die Arbeitslosenquote mehr als 60 Prozent, sagt Bürgermeister Osman Baydemir. Er gehört, wie Leyla Zana, zur pro-kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP). Weil die BDP keine Aussicht hat, landesweit die in der Türkei geltende Zehnprozenthürde zu überspringen, stellen sich ihre Kandidaten als Unabhängige zur Wahl.
Kurdische Kandidaten treten als Unabhängige an
Ihnen muss Erdogan Wähler abspenstig machen. Der Premier versucht das nicht nur mit Versprechungen. Er präsentiert sich auch als eine Art Leidensgenosse der diskriminierten Kurden: „Wir haben genauso gelitten wie ihr“, ruft er dem Publikum in Diyarbakir zu und erinnert daran, dass in den vergangen Jahrzehnten nicht nur zahlreiche pro-kurdische Parteien verboten wurden, sondern auch die fundamentalistische „Nationale Heilspartei“, auf deren Liste Erdogan 1994 Bürgermeister von Istanbul wurde. „Ihr wurdet verboten, wir wurden verboten“, versucht Erdogan sich einzuschmeicheln. Der Druck auf die Tränendrüse kulminiert in dem Ausruf: „Euer Bruder wurde eingesperrt, weil er ein Gedicht vortrug“; eine Anspielung darauf, dass Erdogan 1998 zu zehn Monaten Haft verurteilt wurde, weil er bei einer Kundgebung Verse rezitiert hatte, die von den Richtern als religiöse Hetze ausgelegt wurden.
Leyla Zana dürfte wenig Mitleid für den „Bruder“ Erdogan empfinden. Die Kurdenpolitikerin verbrachte immerhin fast zehn Jahre im Gefängnis, und das nächste Ermittlungsverfahren läuft bereits. Die Kurdenprovinzen brauchten die von Erdogan versprochenen Straßen, den Strom, die Wohnungen und Arbeitsplätze, sagt Zana auf ihren Kundgebungen. Vor allem aber brauchten die Kurden Gerechtigkeit: “Ohne Gerechtigkeit kann es keinen Frieden geben.“ Bereits bei der Wahl von 2007 schafften es 20 kurdische Kandidaten als Unabhängige ins Parlament. Manche Meinungsforscher prognostizieren, dass es diesmal 30 sein könnten. Bewahrheiten sich diese Prognosen, müsste Erdogan die angestrebte Zweidrittelmehrheit und seine Präsidialverfassung wohl abschreiben.