Essen. Deutschland steht möglicherweise eine neue Debatte über Verbrechen der Wehrmacht ins Haus. Ein Buch berichtet über heimlich abgehörte Gespräche deutscher Kriegsgefangener. Soldaten berichten, wie sie Zivilisten töteten und Freude dabei empfanden.
Dass deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg schwere Verbrechen begangen haben, das hat schon damals so mancher gewusst. Dass es nicht nur die SS war, sondern auch die Wehrmacht – das ist spätestens seit den „Wehrmachtsausstellungen“ einem breiten Publikum bekannt. Was allerdings diese Soldaten beim Töten und Terrorisieren empfunden haben mögen: ob es sie viel Überwindung kostete oder wenig; ob sie es verabscheuten oder vielleicht sogar genossen – das war bislang ihr großes Geheimnis.
Wissenschaftler haben sich daran gemacht, auch dieses Geheimnis zu lüften.
Am 12. April erscheint das Buch „Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben“ des Mainzer Historikers Sönke Neitzel und des Sozialpsychologen Harald Welzer vom Essener Kulturwissenschaftlichen Institut. Das Buch schöpft aus Quellen, die erst seit kurzem für die Wissenschaft zugänglich sind: Die Protokolle von heimlichen Abhöraktionen, die Briten und Amerikaner zwischen 1940 und 1945 bei ausgewählten deutschen und italienischen Kriegsgefangenen gemacht haben. Die Alliierten hörten mit, wenn ihre Gefangenen sich über Krieg, Politik, Heimat unterhielten. Und schufen damit eine schier unglaubliche Sammlung von insgesamt rund 75 000 Seiten.
Alle zivilisatorische Zurückhaltung abgelegt
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Was die ehemaligen Wehrmachtssoldaten im lockeren Gespräch untereinander erzählten, zeigt, wie schnell Menschen unter den Bedingungen des Krieges alle zivilisatorische Zurückhaltung ablegen. Da ist, um nur einen zu nennen, jener Flieger, der sagt, dass es ihm am ersten Tag noch leid tat, Bomben auf Zivilisten zu werfen – und dass er am vierten Tag schon Lust dabei empfand. Zitate wie dieses belegen einen rasanten Verwandlungsprozess, den Historiker allerdings schon früher beschrieben haben, etwa Christopher Browning in dem Buch über „Ganz normale Männer“ – Polizisten, die zu Tätern im Holocaust wurden.
Und nun die Bekenntnisse der Soldaten. Muss ihretwegen die Geschichte des Zweiten Weltkriegs bald neu geschrieben werden?
„Das geht über die Wehrmachtsausstellung hinaus“
„In bestimmten Bereichen geht das weit über das hinaus, was die Ausstellungen zu den Wehrmachtsverbrechen gezeigt haben“, sagt der Historiker Hans Mommsen. Er sieht darin aber auch ein Problem: „Wenn man nur die Extreme des Soldatenlebens heraussucht, das Töten und Sterben, dann bekommt das leicht etwas Voyeuristisches.“
Er hat keine Zweifel an der Echtheit des Materials, glaubt aber auch, dass die Alliierten nur das aufgezeichnet haben, woran sie ein besonderes Interesse hatten. Daher müsse man sich fragen, wie repräsentativ das gesammelte Material ist für das, was wirklich in den Köpfen der Soldaten vorging. „Ich habe Vorbehalte“, sagte Mommsen nach der Vorab-Veröffentlichung, „ob man ein zutreffendes Bild von diesen Kriegsgefangenen bekommt, wenn man nur nach den Todesszenen sucht.“
Großes Interesse im Ausland
Längst haben sich weitere Wissenschaftler daran gemacht, die Abhörprotokolle auch auf andere Aspekte hin zu untersuchen – so auf die Haltungen der Soldaten zum Nazi-Regime oder auf die Frage, wie sehr sie selbst zum Antisemitismus neigten. Dabei sind, interessant genug, deutliche Unterschiede zwischen hohen Offizieren und einfachen Soldaten zutage getreten. Auch glaubten die deutschen Gefangenen viel länger als die meisten Italiener an den Sieg des Faschismus.
Allerdings fanden diese Arbeiten bislang wenig Beachtung – anders als „Soldaten“ nach der Vorab-Veröffentlichung: Sofort berichteten Zeitungen in England, Italien und Tschechien über die Privatgespräche der Wehrmacht.