Brüssel. .
Es sollte das Jahr des Aufbruchs in der Europäischen Union werden. Doch die Euro-Krise durchkreuzte die Pläne. Doch nicht nur das: Durch die Währungskrise hat sich auch Deutschlands Verhältnis zu Europa geändert.
Es sollte das Jahr des Aufbruchs werden. Gestützt auf einen neuen Vertrag, ausgestattet mit neuen Führungskräften, angetrieben von einem frisch gewählten Parlament, gelenkt von einem erfahrenen Kommissionschef wollte die Union endlich die quälende Beschäftigung mit sich selbst hinter sich lassen und sich den drängenden Aufgaben zuwenden: Wachstum, Klimaschutz, Energie-Versorgung, Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Maßstab. Es kam alles ganz anders.
Man frage Uwe Corsepius. Der smarte Diplomat aus Berlin, der im kommenden Sommer Generalsekretär des EU-Ministerrats wird und damit einen der wichtigsten Brüsseler Strippenzieher-Posten bekommt, ist Angela Merkels oberster Europa-Techniker. Er hat erheblichen Anteil daran, dass die EU nach fast einem Jahrzehnt mühsamer Bastelei schließlich doch noch an eine neue Geschäftsordnung kam. Die Idee, man müsse den Lissabon-Vertrag gleich wieder nachbessern, schien Corsepius Anfang des Jahres absurd.
Die griechische Krankheit brachte die matten Gemüter auf Trab
Als der Vertrag am 1. Dezember 2009 in Kraft trat, herrschte auch im Kanzleramt “Vertragsänderungsmüdigkeit” (Corsepius). Die griechische Krankheit brachte die matten Gemüter auf Trab. Im Winter entdeckten die Märkte, dass die Hellenen auf horrenden Staatsschulden saßen. Frisches Geld für den klammen Schuldner gab es nur noch gegen saftige Risiko-Aufschläge. Das Wort dafür – “spreads” – sickerte in den Normal-Wortschatz ein. Zugleich mussten die EU-Oberen bestätigen, was viele vermuteten, aber nicht genau hatten wissen wollen: Athen hatte sich den Zutritt zur Euro-Zone mit falschen Zahlen erschwindelt.
Die Bundesregierung sah sich einem Dilemma gegenüber: Zuhause stand (und steht) sie unter Verdacht, deutsche Steuergroschen verschwenderischen Südländern in den Rachen zu werfen, die sich auf unsere Kosten ein feines Leben machen. “In Europa” wurde (und wird) der Kanzlerin umgekehrt vorgehalten, auf die Krise rein national zu reagieren und die gebotene Solidarität zu verweigern.
Hektische EU-Beratungen im Winter
Der Konflikt prägte die hektischen EU-Beratungen im Winter. Ein Krisen-Gipfel l nach dem anderen versicherte, die Euro-Zone werde keines ihrer Mitglieder hängen lassen. “Nur im äußersten Notfall”, präzisierten die Deutschen. Der sei noch gar nicht eingetreten. Und überhaupt müssten die Griechen erstmal ihre Hausaufgaben machen. Im Frühjahr war die Situation da. Griechenland zog die Notbremse und bekam Sonder-Kredite, gekoppelt an Sonder-Hausaufgaben. Im Mai richtete die EU einen gewaltigen Krisentopf ein, der bis zu 750 Milliarden mobilisieren kann.
Die Bild-Zeitung verdammte Merkel, die CDU verlor die NRW-Wahlen. In der EU mehrten sich kritische Stimmen, die Kanzlerin habe dem Kesseltreiben der Märkte viel zu lange tatenlos zugesehen und dabei das Erbe des Großeuropäers Helmut Kohl versaubeutelt. Merkel und ihr Getreuer Corsepius sehen es umgekehrt: Nur dank Härte und guter Nerven sei es gelungen, endlich die Basis für eine wirksame Stabilitätskultur im Euro-Raum zu legen. Zuletzt trotzten die Deutschen den Partnern die seit dem Winter geforderte Vertragsänderung ab: Künftige Krisenbewältigung läuft nach einem vorher vereinbarten Verfahren.
Wenn’s klappt und der Euro intakt bleibt, hat Merkel nach eigenem Verständnis nicht weniger vollbracht als die Rettung Europas. Denn, so ihr Schlüsselsatz 2010, “wenn der Euro scheitert, scheitert Europa”. Ob es klappt, ob sich die nächsten Wellen der Spekulation – gegen Spanien, Belgien, Italien, Frankreich – an der nachgerüsteten Festung brechen werden, weiß derzeit keiner. Nur eine Erkenntnis der Kanzlerin scheint nach diesem Jahr gesichert: “Die Wahrnehmung Europas in Deutschland hat sich geändert. Die Wahrnehmung Deutschlands in Europa auch.”