Berlin. 2021 trug es die Grünen fast ins Kanzleramt, 2025 spielt es keine Rolle: Ein Experte erklärt, wie das Klima zum Nebenschauplatz wurde.
Vor vier Jahren sah es kurz so aus, als könnte Annalena Baerbock mit einem Klima-Wahlkampf neue Bundeskanzlerin werden. Dann, ein paar Monate vor der Wahl, erscheint im Juni 2021 eine große Anzeigenkampagne in vielen deutschen Medien, offline wie online. Ihr Ziel: die Deutschen vor den Grünen zu warnen.
Welchen Anteil sie daran hatte, dass Baerbock den Einzug ins Kanzleramt verpasste, ist nicht sicher. Laut Vincent August, Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU), erzählt die Kampagne jedoch noch mehr. Und zwar darüber, warum das Klima im laufenden Wahlkampf des Frühjahrs 2025 keine große Rolle mehr spielt.
Sicherheit, Migration, Wirtschaft – Bei der Bundestagswahl 2025 dominieren andere Themen
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Selbst die Grünen und ihr Kanzlerkandidat Robert Habeck haben es dieses Mal zunächst ja mit anderen Themen versucht, etwa der Sicherheit. Erst auf den letzten Metern setzen sie noch einmal verstärkt aufs Klima. Der Sound dieses Wahlkampfes ist da aber lange gesetzt. Wie kam es dazu? Vincent August leitet an der HU das Forschungsprojekt „Ökologische Konflikte“. Die Berliner Morgenpost hat mit ihm darüber gesprochen, wie das Klima innerhalb von vier Jahren vom Top-Thema zu einem Nebenschauplatz werden konnte.
Wenn August über ökologische Konflikte spricht, dann unterscheidet er zwischen der „Klimaseite“ und der „Gegenseite“. Das ist keine normative Unterscheidung, betont der Wissenschaftler. In jedem Konflikt stünden sich Positionen gegenüber, die füreinander Gegenspieler bilden. Wer im ökologischen Konflikt auf der Klimaseite steht, ist schnell klar. Aber wer ist diese ominöse Gegenseite? Anders als Fridays for Future und die Letzte Generation ist sie nicht bewegungsförmig organisiert. Und weil sie, statt auf die Straße zu gehen, im Hintergrund wirkt, fällt sie nicht so sehr ins Auge. Auch deshalb werde sie so selten besprochen, meint August.
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Annalena Baerbock als moderner Moses: Kampagne gegen die Grünen
Einer der Akteure, die der HU-Professor hier verortet, ist die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Aus ihrer Feder stammt die Anti-Grünen-Kampagne im Sommer 2021. Annalena Baerbock, gekleidet in ein flaschengrünes, biblisches Gewand, hält darauf in jedem Arm eine schwere Steintafel. Auf ihnen stehen zehn Verbote, die die spätere Außenministerin dem Betrachter lächelnd präsentiert.
Die Grüne als moderner Moses, die statt Geboten, zehn Verbote vom Himmel empfängt: Es beginnt mit „Du darfst kein Verbrenner-Auto fahren“ und endet mit „Du darfst nicht mal daran denken, dass mit 10 Verboten Schluss ist“. Überschrieben ist die Kampagne mit „Wir brauchen keine Staatsreligion“.

HU-Professor August sieht in ihr viele Muster angelegt, die von den Gegnern weitergehender Klima-Maßnahmen seitdem immer wieder aufgegriffen werden: „Man hat hier die Anspielung auf eine religiöse, geradezu fundamentalistische Stoßrichtung und das Motiv eines übergriffigen Staates verschränkt. Außerdem wird angedeutet, dass diese ideologischen Übergriffe gegen die Mehrheitsgesellschaft gerichtet sind.“
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„Gefahr für die gute Ordnung“: Wie die Klimabewegung diskreditiert wurde
Neben der INSM, die sich schon vor dieser Kampagne gegen das Erneuerbare-Energien-Gesetz eingesetzt habe, nennt August als zweiten Akteur der Gegenseite Teile der Springer-Presse. In der „Welt“ würden sich demnach oft starke Gegenpositionen finden und die „Bild“ positioniere sich seit ein paar Jahren zum Teil kampagnenartig gegen weitergehende Klimamaßnahmen. An dritter Stelle stünden rechte Netzwerke oder Lobbyvereine, wie das Europäische Institut für Klima & Energie (EIKE), das den Einfluss des Menschen auf den Klimawandel leugnet, und Vernunftkraft, ein Verein, der keine Windräder will.
Als Reaktion auf die Erfolge der Klimaseite in den frühen 2020er Jahren hat diese Gegenseite mobil gemacht. Dabei konnte an Diskurse aus den USA angeknüpft werden. Seit den 80er Jahren sei dort von der Industrie das Narrativ des Ökoterrorismus verbreitet worden, um die Umweltbewegung zu diskreditieren. Auch in Deutschland wurde die Klimaseite zu einer „Gefährdung der guten Ordnung“ stilisiert, sagt August.
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Schutz vor „Terroristen“ und „Gealttätern“: Aus dem Klima- wurde ein Sicherheitsthema
Die Strategie sei, zugespitzt gesagt, gewesen: „Man schafft eine In-Group, die die Mehrheitsgesellschaft sei, die ‚Nackensteak-Esser‘ der Gesellschaft, wie es in der Bild einmal hieß, die hart arbeitende Mitte. Und man konstruiert sich eine Out-Group, die diese Werte von Freiheit, Sicherheit und Wohlstand existenziell gefährdet. Alle, die Klimamaßnahmen vorantreiben, werden tendenziell dieser Out-Group zugeordnet“, fasst August zusammen. „Und das hat ziemlich gut funktioniert, kann man sagen.“
Das zeigt etwa eine Textanalyse, in der er mit seinem Team 5000 Artikel, die zwischen 2019 und 2023 erschienen sind, analysiert hat. Die Ausgangsbeobachtung war, dass die Klima-Debatte häufig mit Begriffen wie „Terrorismus“ oder „Gewalttäter“ belastet ist, obwohl der Konflikt insgesamt relativ gewaltarm ist. Die Analyse bestätigte diesen Eindruck: Am Anfang, von 2019 bis 2021, waren die Proteste der Klimaseite noch sehr stark mit legitimem zivilen Ungehorsam assoziiert. Während sich die Massenproteste von FFF und die Aktionen der Letzten Generation dann aber erschöpfen, kippt die Deutungshoheit. „Sie lag dann bei der Gegenseite.“
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Gegenstand des Konflikts war dann nicht mehr so sehr der Klimawandel und seine politische Bearbeitung, sondern die Aufrechterhaltung der guten Ordnung, die von gewalttätigen Akteuren bedroht wird. Mit dieser Strategie, den Klimawandel zu einem Sicherheitsthema zu machen, ist es der Gegenseite gelungen, den Konflikt – Stand jetzt – für sich zu entscheiden.
Besonders gut funktioniert das für Akteure, denen traditionell die meiste Kompetenz in Sicherheitsfragen zugeschrieben wird, zum Beispiel konservative politische Kräfte. „Es könnte aber sein, dass sich im parteipolitischen Spektrum diese Kompetenz-Zuschreibung zum Teil auch weiter nach rechtsaußen verlagert“, sagt August.
Klimabewegung: Allianzen bilden, um auf Tag X vorbereitet zu sein
‚Wie kommt man da wieder raus?‘ fragt sich die Klimaseite vermutlich gerade. August ist sich sicher, dass sie noch viele Möglichkeiten haben wird, das Thema zurück ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung zu bringen. „Wir haben es hier mit einem biophysikalischen Prozess zu tun. Der kommt, ob wir das wollen oder nicht. Und desto weniger wir dagegen tun, desto stärker kommt der.“ Vieles spricht dafür, dass Extremwetterereignisse das Thema über kurz oder lang wieder anschieben werden.
Um sich darauf vorzubereiten, ist etwa FFF dazu übergegangen, Allianzen zu bilden. Zum Beispiel mit der Gewerkschaft Verdi. Solch ein Akteur, fest verankert im Institutionengefüge der Bundesrepublik, hat der Klimaseite bislang gefehlt. Die Gegenseite war auch deshalb erfolgreich, weil sie solche Akteure auf ihrer Seite hatte, etwa Bauern- oder Arbeitgeberverbände.
An einem möglichen Tag X könnten sich diese neuen Allianzen auf der Klimaseite auszahlen. Spätestens beim nächsten Ereignis vom Kaliber der Aartal-Flut, könne sich das Thema wieder neu drehen, sagt August.