Düsseldorf. Wenn die Arbeit nicht mehr sinnstiftend ist, sondern eine Qual, steigt das Risiko für eine seelische Krise. Experten warnen im Landtag.
Druck im Job kann beflügeln, aber auf Dauer macht er viele Beschäftigte eher mürbe. Kommt ein generell schlechtes Arbeitsklima hinzu, eine gleichgültige Chefetage, Überstunden, nervige Kundinnen und Kunden und vielleicht noch Stress in der Familie, entsteht ein giftiger Cocktail, der die Seele angreift. Das ist keine Kleinigkeit, warnten Expertinnen und Experten am Mittwoch in einer Anhörung im Landtag. Seelische Erkrankungen seien eine der häufigsten Ursachen für Arbeitsunfähigkeit. Und der Schaden für jeden Betroffenen und für die Allgemeinheit sei riesig.
Ist Arbeit ein Risiko für die Gesundheit?
Im Grunde nicht. Arbeit sei eigentlich etwas sehr Positives, erklärte Andreas Pichler, Präsident der Psychotherapeutenkammer NRW, und er schmückte seine Rede mit einem bekannten Freud-Zitat: „Der Mensch muss lieben und arbeiten können.“ Arbeit gebe dem Tag Struktur, fördere soziale Kontakte, stärke das Selbstbewusstsein, beschere Millionen Frauen und Männern ein „gesundes Lebensgefühl“.
Aber es kann eben auch anders kommen. Wenn Arbeit ausufert und in einem schlechten Umfeld geschieht, führt sie zu Erschöpfung, Burnout, Depressionen, veritablen Lebenskrisen.
Wie groß ist das Problem?
Es ist riesig und nimmt rasant weiter zu, wie mehrere Studien beschreiben. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat 2023 im Rahmen seiner Studie „DBG-Index Gute Arbeit“ herausgefunden, dass sich etwa 90 Prozent der Befragten im Job „gehetzt“ fühlten. Jeder Dritte beklagte sich darüber, für den Arbeitgeber ständig erreichbar zu sein. Nur sieben Prozent der Befragten glaubten, bis zur Rente durchhalten zu können.
Laut der Krankenkasse AOK Rheinland/Hamburg hat die Zahl psychischer Erkrankungen in den vergangenen 20 Jahren um 180 Prozent zugenommen. Mit 13,6 Prozent aller Erkrankungstage im Jahr 2023 seien psychische Erkrankungen der dritthäufigste Grund für eine Arbeitsunfähigkeit.
Die SPD, auf deren Antrag die Expertenanhörung zurückging, wies auf diverse Studien hin, aus denen hervorgehe, dass jede zweite Frühverrentung psychisch bedingt sei.
Andreas Pichler von der Psychotherapeutenkammer NRW stellte klar: „Seelische Gesundheit ist genauso wertvoll wie körperliche Gesundheit.“ Das bedeutet umgekehrt: Wenn die Seele stark leidet, dann ist das genauso schlimm wie eine schwere körperliche Erkrankung.
Welche Folgen hat zu großer Stress im Job?
Gesellschaftliche, betriebliche und individuelle. „Für die Unternehmen gehen damit immense Fehlzeiten und ein enormer Kompensationsaufwand einher“, schreibt der Dachverband „Unternehmer NRW“ in seiner Stellungnahme. Anke Unger vom DGB in NRW sagte im Landtag, viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer reduzierten ihre Arbeitszeit, weil sie den Druck nicht aushielten. „Sie verdienen dann aber auch weniger und bekommen später weniger Rente“, betonte Unger. Ein Land, das unter Fachkräftemangel leidet, könne es sich eigentlich nicht leisten, dass viele zum Teil gut qualifizierte Beschäftigte gar nicht mehr arbeiteten oder in Teilzeit gingen, so die Gewerkschaften. Unterschwellig steht auch dieser Vorwurf im Raum: Wer das Renteneintrittsalter auf 67 erhöht, der muss dafür sorgen, dass die Menschen das auch schaffen.
Ist das Problem in NRW besonders groß?
Ja. Im Jahr 2023 lag NRW laut der Krankenkasse DAK bei den psychisch bedingten Fehlzeiten vier Prozent über dem Bundesniveau. Mögliche Ursachen nannte Anke Unger von DGB: „Das dürfte auch an den vielen Transformationsprozessen in NRW liegen, zum Beispiel im Ruhrgebiet und im Rheinischen Revier.“ Das heißt frei übersetzt: Man darf sich nicht wundern, wenn der viel beschriebene „Strukturwandel“ – Alte Jobs fallen weg, neue entstehen, Erwerbsbiografien brechen – auch in der Seele tiefe Spuren hinterlässt.
Sind seelische Erkrankungen meist arbeitsbedingt?
Nein. „Die Ursachen sind oft nicht monokausal“, erklärte Dirk Ruiss vom Verband der Ersatzkassen in NRW. Wenn zum Beispiel zum Stress im Job Ärger in der Familie kommt, dann steigt das Risiko. Psychotherapeut Andreas Pichler zieht sogar die Weltlage zur Begründung der Zunahme von psychischen Erkrankungen heran: „Nach der Corona-Krise geriet die Welt in eine multiple Krisenlage. Insbesondere Kinder und Jugendliche haben Angst vor Krieg und vor dem Klimawandel. In der steigenden Nachfrage nach Therapie spiegelt sich diese allgemeine Verunsicherung der Menschen.“
Welche Hilfsangebote gibt es?
Unterm Strich viel zu wenige. „Es dauert bis zu acht Monate, bis ein geeigneter Therapieplatz gefunden wird“, rechnete Axel Hofmann, Psychologe und Arbeitsschutzexperte bei „Unternehmer NRW“ vor. Laut diesem Verband wurden trotz eines starken Anstiegs der Diagnosen seit 1999 die Anzahl der Kassensitze für Psychotherapeuten nicht erhöht. „Wenn Menschen keinen Therapeuten finden, dann entstehen eben lange Wartezeiten“, so Andreas Pichler.
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