Berlin. Valentin Zühlke macht Abitur an der Waldorfschule und darf zum ersten Mal wählen. Die Frage ist, was, wenn die Zukunft doch so ungewiss ist.
Zwei wichtige Entscheidungen muss Valentin Zühlke in der ersten Jahreshälfte 2025 treffen. Der 18-Jährige steht in einem Klassenraum einer Waldorfschule am Stadtrand Berlins. Auf der einen Seite die grüne Tafel, auf der anderen das moderne Whiteboard – in diesem Moment Synonym für das Vergangene und die Zukunft, die dem jungen Mann bald offen steht. Nach 13 Jahren in diesen Räumlichkeiten soll im Sommer Schluss mit der Schule sein. Dann hat Zühlke, so der Plan, sein Abi in der Tasche – und muss erstmals selbstbestimmt entscheiden, was er mit seinem Leben anfangen soll.
Noch bevor er den Stift für die ersten Prüfungen ansetzt, darf Zühlke erstmals die Geschicke des Landes und seiner Zukunft mitbestimmen. Mit dem Bruch der Ampel-Koalition ist er einer von rund 2,3 Millionen Erstwählern, die am 23. Februar früher als gedacht ihre Kreuze für eine Partei machen dürfen. Wie aus Schätzungen des Statistischen Bundesamtes hervorgeht, repräsentieren sie rund 3,9 Prozent der Wahlberechtigten.
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Bundestagswahl: Stimmen junge Menschen wieder rechts ab?
Zühlke ist damit Teil einer Generation, die bei Wahlen in der jüngsten Vergangenheit für Furore sorgte: Stimmten bei der Bundestagswahl 2021 die meisten 18- bis 24-Jährigen noch für Grüne und FDP, drehte sich die Stimmung bei Europawahlen und in den meisten ostdeutschen Bundesländern schlagartig. Plötzlich stand die AfD in der Gunst junger Menschen auf den ersten Plätzen. Jugendstudien attestierten dieser Generation eine gewisse Untergangsstimmung: Düstere Aussichten bei Rente, Klima und Frieden schienen rechte Parteien, gepaart mit einem gezielten Auftreten in den sozialen Medien, besser auffangen zu können.
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Die Parteipräferenz der jungen Wählerschaft sei volatil, heißt es dazu in der neusten Trendstudie „Jugend in Deutschland 2025“, die der jungen Generation eine große Unzufriedenheit mit der Arbeit der gescheiterten Ampel-Regierung nachsagt. Mitnichten ist aber abzusehen, ob der Rechtsruck weiter anhält: Zwar stehe die AfD in der Umfrage bei den 18- bis 21-Jährigen mit 20 Prozent noch immer auf Platz eins. Direkt dahinter kommen aber die Linken mit 19 Prozent, gefolgt von Grünen mit 14 Prozent. Unter den 18- bis 29-Jährigen teilen sich derzeit AfD und Grüne mit 18 Prozent den ersten Platz.
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Erstwähler: Das denkt er über Migration
Zühlke ist sich noch nicht ganz sicher, wen er wählen soll. Eine Tendenz habe er jedoch. „Ich gehe, und das finde ich schade, nach Ausschlussverfahren vor“, so der Erstwähler. Auf einer Skala von 1 bis 10 bewertet er sein Interesse an Politik mit 6 oder 7. Es sei kein Hobby. Denn davon hat der 18-Jährige mehr als genug: Er musiziert mit Klarinette und Saxophon, engagiert sich in einem Kinderzirkus und baut Architektur aus Lego nach. Dennoch empfindet er sein Wahlrecht als Privileg: „Es ist einer der wenigen Wege, wie man als Bürger ins politische Geschehen eingreifen kann.“ Entscheiden will er nach der Frage, was ihn und sein unmittelbares Umfeld betrifft.
Die Frage ist nur, was er darunter versteht. Zühlke ist unsicher, und dieser Zustand durchzieht diese Lebensphase des jungen Menschen: Selbstverständlich freue er sich, dass seine Schulzeit bald zu Ende ist: „Diese Freiheit ist cool – aber auch total überfordernd“, sagt er. Dabei hat er jede Menge Ideen, was seine Karriere angeht: Ingenieur, Maschinenbau oder Musiklehrer. „Aber zum jetzigen Zeitpunkt will ich mich damit nicht tiefer auseinandersetzen.“
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Ähnlich vage reagiert er auf die Frage, was ein 18-Jähriger in seiner Lebenslage von der Politik fordert. „Es gibt kein Thema, was mich so richtig aufregt“, sagt er, und bleibt mit Sätzen wie „Auf der einen und auf der anderen Seite“ im Ungefähren: Die Familie mütterlicherseits sei in der Landwirtschaft tätig, weshalb ihm Ökologie sehr am Herzen liege. Als Abiturient mit den Leistungskursen Mathe und Biologie beschäftige er sich mit Infrastruktur, wobei ihm positiv aufgefallen sei, wie die Ampel-Koalition in die Bahn investiert hat. Viele Geflüchtete kommen nach Deutschland – er könne aber nicht beurteilen, ob das gut oder schlecht ist. Mit Blick auf die Zeit nach dem Abitur fallen Begriffe wie bedingungsloses Grundeinkommen oder ein Startguthaben. Von der „Classic Card“, einem vergünstigten Angebot für Kulturveranstaltung, partizipiere er großzügig, sagt er lachend.
Bürgergeldpläne der CDU stoßen auf Unverständnis
Eigentlich könne er sich seine regelmäßigen Opernbesuche auch ohne Unterstützung des Staates leisten, so Zühlke, seine ganze bisherige Schulzeit an einer Waldorfschule im bürgerlichen Stadtteil Zehlendorf verbracht hat. Doch der 18-Jährige weiß, wie es ist, in finanzielle Nöte zu geraten. „Alles von Hartz IV bis Fünfzimmerwohnung habe ich miterlebt“, sagt er. Sein Vater ist Schauspieler, der an Nierenversagen leidet. „Meine Mutter hat nonstop gearbeitet und meinem Vater ging es richtig dreckig“, sagt er über Phasen seiner Kindheit.
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Heute ist sein Vater Stammregisseur an einem Laientheater und seine Mutter Grundschullehrerin. „Finanziell sieht es gut aus.“ Doch die Erfahrung seiner Kindheit steckt ihm noch im Rücken. Von selbst kommt er auf Kürzungspläne der CDU beim Bürgergeld zu sprechen. Dafür habe er nun wirklich kein Verständnis.
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„Wer mich momentan am meisten emotionalisiert, sind die Grünen“
Zühlke lacht immer wieder auf und zeigt damit eine gewisse Bitterkeit. Denn inhaltlich bleibt es bei ihm zwar bei einem Sammelsurium politischer Themen. Doch darüber schwebt ein Anspruch an Politik, den er klar formulieren kann: „Politik ist mir oft zu realitätsfern“, sagt er. Als Beispiel nennt er den Eindruck, dass Politik in Schulen in Smartboards statt in vernünftige Toiletten investiere. Mehrmals bezweifelt der junge Mann, ob Politiker kompetent genug seien, Entscheidung auf Politikfeldern zu treffen, von denen sie seiner Meinung nach gar keine Ahnung haben.
„Es geht um Glaubwürdigkeit“, erklärt Zühlke seinen Verdruss. Als Negativbeispiel beschäftigt ihn vor allem eine Partei: „Wer mich momentan am meisten emotionalisiert, sind die Grünen“, so Zühlke. „Die sind völlig an dem vorbeigeschossen, was sie früher mal versprochen haben.“ Der Erstwähler begründet seine Kritik vielmehr aus einer linken Perspektive, ist enttäuscht, dass sich die Grünen von ihren pro-ökologischen und pazifistischen Grundsätzen in die politische Mitte geöffnet haben.
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„Aber ich kann ihn nachvollziehen – und das finde ich selbst erschreckend“
Dass große Teile seiner Generation ihre Stimme zuletzt der AfD gaben, erklärt er sich so: „Ich denke, es geht gar nicht um das Rechte an dem Rechtsruck – sondern darum, dass die AfD mit ganz klaren Fragen wirbt.“ Als Beispiel zieht er die Wahlkampagnen der ehemaligen Ampel-Koalition heran. Nur mit „Stabilität“ und gegen die AfD zu werben reiche für viele Menschen eben nicht aus, meint der 18-Jährige. Vielmehr müsse etwas am „bürgerlichen Leben“ geändert werden. Auch hier meidet der Erstwähler, konkret zu werden, bleibt im Nirwana der politischen Themen verhaftet.
Der Abiturient allerdings kann für sich ausschließen, der AfD seine Stimmen zu geben. Gerade die Geschichtsvergessenheit, die Relativierung der Verbrechen der Nationalsozialisten lehne er ab. In seinem Bekanntenkreis merke er den Rechtsruck nur ganz entfernt. „Aber ich kann ihn nachvollziehen – und das finde ich selbst erschreckend.“