Berlin/Brüssel. Unions-Kanzlerkandidat Merz bereitet mit acht EU-Regierungschefs einen Kurswechsel in Europa vor. Was er vorhat, wer sich fürchten muss.

Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz hat bisher kein Regierungsamt, aber er bringt sich schon mal in Stellung im Kreis der europäischen Regierungschefs. Konservative Premiers und Präsidenten aus acht EU-Staaten, von Schweden bis Griechenland, von Lettland bis Portugal, versammelte Merz zu einem ungewöhnlichen Gipfeltreffen in der Berliner CDU-Zentrale, um selbstbewusst eine klare Ansage zur Europapolitik zu machen: Mit ihm soll es eine „Zeitenwende in Brüssel“ geben, konkret zunächst ein Ende der Überregulierung, die zunehmend zum Ärgernis geworden ist.  

Bei dem zweitägigen Treffen von Spitzenpolitikern der Europäischen Volkspartei (EVP) wurde am Samstag ein Plan für umfassenden Bürokratieabbau und für mehr Wettbewerbsfähigkeit Europas beschlossen. Regulierungen sollen ebenso reduziert werden wie die Berichtspflichten für Unternehmen. Die EVP werde sich dafür stark machen, die europäische Lieferkettenrichtlinie und die Nachhaltigkeitsrichtlinie für mindestens zwei Jahre komplett „auszusetzen und radikal zu vereinfachen“, sagte Merz nach dem Treffen. Die überbordende Regulierung und Bürokratie sei der Hauptgrund für den europäischen Produktivitätsrückstand gegenüber den USA und China, heißt es im Beschluss. Aber für Merz geht es um mehr, das Gipfeltreffen und der Ruf nach einem Kurswechsel sind eine Demonstration: Merz beansprucht in Europa offenbar schon jetzt eine Führungsrolle - unter den konservativen Politikern des Kontinents, im Fall eines Wahlsiegs dann auch im Kreis der 27 EU-Staats- und Regierungschefs.

Merz: Europa muss erwachsen werden

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    Merz lädt zum Spitzentreffen – ein Thema darf von der Leyen als Misstrauenserklärung verstehen

    Für den großen Auftritt, der diesen Anspruch markiert, hatte der CDU-Chef auch die Spitzen der Brüsseler Christdemokraten aus der EVP-Parteienfamilie zu Gast in seinem Hauptquartier: Der mächtige EVP-Partei- und Fraktionschef Manfred Weber (CSU) war dabei, der Europas Konservative schlagkräftiger organisieren will, EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola und die gerade von einer schweren Lungenentzündung genesene Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU). Angereist waren zudem mehrere zur EVP gehörende Oppositionsführer und CSU-Chef Markus Söder. Die EVP-Politiker berieten auch über die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

    Unions-Kanzlerkandidat Merz besucht Polen
    Friedrich Merz, Unions-Kanzlerkandidat und CDU Bundesvorsitzender, zu Besuch beim polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk. © picture alliance/dpa | Michael Kappeler

    Vor allem das offizielle Thema Bürokratieabbau allerdings durfte von der Leyen als Misstrauenserklärung verstehen: Die Kommissionspräsidentin hat mit ihrer ersten Amtszeit ein Gutteil jener Bürokratie-Lawine zu verantworten, über die die Wirtschaft gerade in Deutschland jetzt stöhnt – und die Merz nun stoppen will. Er ist damit nicht allein. „Da sind Dinge rausgekommen, wo man sich nur wundert“, schimpfte kürzlich Kanzler Olaf Scholz über von der Leyens Regelungswut. Er schrieb der Präsidentin einen Brief, um sie zum Verzicht auf bürokratische Vorschriften zu drängen. Merz und Weber hatten von der Leyen schon vor der Europawahl im Juni 2024 das Versprechen eines drastischen Kurswechsels abgerungen – im Gegenzug für ihre Nominierung musste sie unter anderem den Bürokratieabbau zu einem zentralen Vorhaben ihrer zweiten Amtszeit erklären.

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    Merz und von der Leyen sind in vielen Fragen weit auseinander

    Doch noch ist unklar, ob von der Leyen das einlöst. Schon klagen Kritiker, sie sage zwar eine Vereinfachung von EU-Regeln zu, aber von echter Deregulierung sei gar nicht die Rede. Nun krempelt Merz  fünf Wochen vor der Bundestagswahl selbst die Ärmel hoch. Die kleinteilige Regulierung müsse rückgängig gemacht werden, verlangt er. 60 bis 70 Prozent dieser Vorschriften in Deutschland hätten ihren Ursprung in der EU. „Brüssel muss jetzt auch eine Zeitenwende vollziehen“, fordert der CDU-Chef. Durch den Grundsatz, dass für jede neue Regelung zwei alte Vorschriften wegfallen, soll laut Beschlusspapier die Regulierungslast um ein Drittel geringer werden. Politiker der Grünen protestieren bereits gegen die Pläne, warnen vor einem „Generalangriff auf den europäischen Green Deal“.

    Von der Leyen ist geschmeidig genug ist, um trotzdem irgendwie ein Bild der Einigkeit mit Merz zu vermitteln. Aber inhaltlich sind sie und der Kanzlerkandidat auch in vielen anderen Fragen weit auseinander - von der Migrationspolitik, für die Merz und die EVP jetzt einen deutlich härteren Kurs verlangen, bis zum Verbrenner-Verbot, das der CDU-Chef im Schulterschluss mit Europas Konservativen kippen will. Das beiderseitige Bemühen um vernünftige Zusammenarbeit, von dem im Umfeld der beiden Politiker die Rede ist, stößt an Grenzen. Eine Zeit lang hatten von der Leyens Vertraute in Brüssel die Parole verbreitet, in der EU komme es angesichts der Regierungskrisen in wichtigen EU-Staaten jetzt vor allem auf ihre Führung an. Doch wenn Merz Bundeskanzler würde, könnte es unbehaglich für sie werden, denn er dürfte in Brüssel kraftvoll ins Steuerrad greifen.

    Der Druck auf EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wächst, in ihrer zweiten Amtszeit einen umfassenden Bürokratieabbau der EU in Angriff zu nehmen.
    Der Druck auf EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wächst, in ihrer zweiten Amtszeit einen umfassenden Bürokratieabbau der EU in Angriff zu nehmen. © AFP | Frederick Florin

    Die Erwartungen aus Europa an Merz sind groß

    Die Plattform für seine Ambitionen ist der Rat der Mitgliedstaaten, der sich traditionell als Gegenspieler der Kommission versteht. Die 27 Regierungschefs persönlich setzen der Kommission die Ziele und erteilen ihr Arbeitsaufträge. Diese Plattform will Merz noch ausbauen, wie er vor ein paar Tagen verriet: „Die Zusammenarbeit in der EU wird in den nächsten Jahren stärker als bisher intergouvernemental sein“. Übersetzt ist das beinahe eine Kampfansage: Die Regierungen der Mitgliedstaaten sollen in der EU stärker das Sagen haben, nicht Brüssel. Deutschland als größtem EU-Staat käme dabei eine herausgehobene Bedeutung zu.

    Nicht nur das steckt hinter dem Anspruch des CDU-Chefs: Immerhin 13 der 27 Staats- und Regierungschefs gehören bislang zur christdemokratischen EVP-Parteienfamilie. Wenn Merz Kanzler würde, hätte die EVP sogar die Mehrheit im Europäischen Rat, wie führende Christdemokraten vorrechnen, im Parlament ist sie ohnehin mit Abstand die stärkste Fraktion. Merz kennt als früherer Europaabgeordneter von 1989 bis 1994 den Betrieb. Ihm geht in Brüssel der Ruf eines überzeugten und machtbewussten Pro-Europäers voraus, entsprechend groß sind die Erwartungen nach der wenig glanzvollen Europa-Bilanz von Kanzler Scholz. Merz weiß um diese Stimmung, sein Ziel beschreibt er so: „Es wird dringend Zeit, dass sich Deutschland in Europa wieder mehr engagiert, zum Nutzen Europas, aber auch und ganz besonders in unserem eigenen Interesse“, schrieb er in einem Gastbeitrag für den britischen Economist. „Denn ob wir es nun wollen oder nicht, wir sind das Land, auf das es besonders ankommt.“

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    Bei seinem Migrationsplan wird Merz von europäischen Kollegen kritisch gesehen

    Die Europapolitik von Scholz, der mit seinen Kollegen in Paris und Warschau nicht warm wurde, kritisiert Merz als „Totalausfall“, er hofft auf eine „neue goldene Ära der deutsch-französischen Beziehungen, vorzugsweise in enger Abstimmung mit Polen“. Der Kanzlerkandidat hat dazu erste Besuche bei Emmanuel Macron in Paris und Donald Tusk in Warschau absolviert. Er hat aber auch bereits Kontakte etwa zur dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen von den Sozialdemokraten, mit ihr will er nach eigenen Worten eine Verschärfung des Asylsystems durchsetzen. „Eine Regierung Merz würde versuchen, Deutschlands Platz in Europa wiederherzustellen“, erklärt die Politikwissenschaftlerin Jana Puglierin vom europäischen Thinktank ECFR in Berlin. Merz würde sich jedoch scheuen, mehr deutsches Geld in den europäischen Neustart zu stecken, glaubt Puglierin, sie sieht bei ihm einen „Deutschland first“-Ansatz.

    Bundeskanzler Scholz gibt Pressestatement
    Die europapolitische Bilanz von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ist umstritten, sein Herausforderer Friedrich Merz (CDU) spricht von einem „Totalausfall“. © DPA Images | Kay Nietfeld

    Sowieso findet nicht alles, was der CDU-Chef fordert, anderswo in Europa Zustimmung. Der Unions-Plan, praktisch überhaupt keine Asylbewerber mehr nach Deutschland einreisen zu lassen, wird von der Mehrzahl der Mitgliedstaaten sehr kritisch gesehen - es wäre wohl ein eklatanter Verstoß gegen Europarecht, dessen Folgen die Nachbarländer auszubaden hätten. Und dass Merz neue Gemeinschaftsschulden in der EU „mit allen Mitteln verhindern“ will, weil er eine „Schuldenspirale“ fürchtet, finden auch einige konservative Regierungschefs unklug -  immer mehr Länder plädieren für einen neuen Milliarden-Fonds, der Rüstungsprojekte finanzieren könnte. Durchweg harmonisch würde es mit Merz also nicht. Aber fast noch mehr als ein Berliner Nein wird in Brüssel deutsche Unentschlossenheit gefürchtet, die durch den Dauer-Streit der Ampel-Koalition zuletzt immer neue Blüten trieb: Die häufigen Enthaltungen der Bundesregierung bei Abstimmungen der Mitgliedstaaten sind längst als „german vote“ berühmt-berüchtigt.

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    EU-Parlamentspräsidentin Metsola sagte kürzlich im Interview mit unserer Redaktion, ein starkes Europa brauche ein starkes Deutschland: „Man kann mit Deutschland übereinstimmen oder nicht – entscheidend ist, dass die deutsche Position klar ist.“ Mit dem Berliner Gipfeltreffen signalisiert Merz, dass er, einen Wahlsieg vorausgesetzt, diesen Wunsch wohl gern erfüllen würde.