Berlin/Paris/El Paso. Immer wieder schlagen Rechtsextreme zu. Sie berufen sich dabei auf einen alten französischen Ideologen – und nutzen zugleich Chatforen.

Noch bevor die ersten Meldungen in den Nachrichten auftauchen, postet ein Nutzer der Plattform „8chan“ im Internet ein „Manifest“.

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Auch die US-Sicherheitsbehörden gehen mittlerweile davon aus, dass der Verfasser der mutmaßliche Attentäter auf den Supermarkt in El Paso, Texas, ist. Das „Manifest“ ist gefüllt mit rechtsextremen Verschwörungstheorien, mit Hass gegen die „Invasion“, in diesem Fall vor allem Menschen, deren Familien aus Lateinamerika und vor allem Mexiko stammen.

„Verbreitet es, Brüder!“

Es richtet sich gegen „Rassendurchmischung“ und schlägt vor, die USA wieder nach Hautfarben zu trennen. Zu dem Post mit dem „Manifest“ schreibt der Attentäter: „Ich kann nicht länger warten. Erledigt euren Teil und verbreitet es, Brüder!“ Natürlich nur, ergänzt der mutmaßliche Rechtsterrorist, sollte der Angriff erfolgreich sein.

Kurz danach eilt die erste Polizeimeldung über die Medienseiten: Ein Bewaffneter eröffnet das Feuer in einem Supermarkt direkt an einem Einkaufszentrum in El Paso. Mindestens 20 Menschen sterben, mehrere werden verletzt.

Wieder hat ein Rassist zugeschlagen und mutmaßlich Menschen bei einem Attentat getötet. Im März dieses Jahres zog ein 30 Jahre alter Mann in Christchurch, Neuseeland, los und erschoss Dutzende Frauen, Männer und Kinder in zwei Moscheen der Stadt.

Nur „einsame Wölfe“?

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El Paso, Christchurch, Kalifornien – alle mutmaßlichen Attentäter veröffentlichten ein „Bekennerschreiben“ oder „Manifest“ mit ihrer Ideologie kurz vor der Tat auf der Online-Plattform „8chan“.

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Häufig werden Attentäter als „Einsame Wölfe“ bezeichnet – ob Islamist oder Neonazi. Tötet der Mann alleine und ohne Mithelfer oder ist nicht erkennbar in eine Partei oder eine Organisation eingebunden, sprechen die Sicherheitsbehörden von „Einzeltätern“.

Juristisch mag das stimmen. Doch das Bild des „einsamen Wolfes“ ignoriert die Vernetzung der gewaltbereiten globalen Rechten, so wie es den globalen Dschihad der Islamisten gibt.

Einzeltäter-Theorie blendet vieles aus

Die Einzeltäter-Theorie blendet aus, dass sich extreme Rechte in Internetforen zu Hass anstacheln und einen Kanon an Autoren zitieren, mit denen sie Hass und mögliche Anschläge begründen. Die Theorie ignoriert, dass Rechtsterroristen aufeinander Bezug nehmen, auf den Hetz-Plattformen sogar vergleichen, wer mehr Menschen getötet hat.

Als Bindeglied der Rechtsterroristen der vergangenen Jahre fungiert die Plattform „8chan“. Und der französische Autor Renaud Camus. Alle, die Camus persönlich begegnet sind, bezeichnen ihn als einen äußerst vornehmen und höflichen älteren Herrn.

Doch der französische Philosoph hat mit seinen rassistischen Thesen über den „Bevölkerungsaustausch“ den Boden für die Attentäter von El Paso und Christchurch bereitet, er gilt als einer der wichtigen rechtsextremen Verschwörungstheoretikern,

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Camus schrieb Buch „Der große Austausch“

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Folgt man seiner Ideologie, dann sind sowohl Europa als auch Nordamerika wegen der Einwanderung von einem „beispiellosen Kultur- und Identitätsverlust“ bedroht. Der französischen Regierung wirft Camus etwa vor, die „weißen Bürger“ durch afrikanische Menschen muslimischen Glaubens ersetzen zu wollen. Gleiches gelte für alle europäischen Länder und „hundertmal für Deutschland“.

Mexiko erwägt Auslieferungsantrag für Todesschützen von El Paso

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    Der Attentäter von Christchurch benannte sein „Manifest“, das er noch vor der Tat auf der Internetplattform „8chan“ verbreitet hatte, genauso: Der große Austausch. Auch er fabuliert von einem „weißen Genozid“.

    Der Christchurch-Attentäter beschriftete seine Waffen vor dem Anschlag mit Namen von früheren Rechtsterroristen. Darunter ganz besonders: der Norweger Anders Breivik. Auch in dem 74 Seiten langen „Manifest“ erwähnt der aus Australien stammende Terrorist den norwegischen Attentäter.

    Rechtsterroristen berufen sich aufeinander

    Und jetzt? Nennt sich der Angreifer von El Paso in seinem Bekennerschreiben gleich am Anfang einen „Unterstützer“ des Christchurch-Attentäters. Rechtsterroristen berufen sich aufeinander, auf ihre gemeinsame Ideologie. Sie handeln alleine, und doch sind sie eingebunden in ein digitales Netz an Gleichgesinnten. Sie nutzen gemeinsame Kennzeichen, verweisen auf gemeinsame Ideologen und teilen sie mit auf gemeinsamen Internetforen.

    Christchurch: Passanten stehen vor Blumen die für die Opfer eines rassistisch motivierten Anschlags niedergelegt wurden.
    Christchurch: Passanten stehen vor Blumen die für die Opfer eines rassistisch motivierten Anschlags niedergelegt wurden. © dpa | David Alexander

    Breivik, bei dem Gutachter eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostizierten, gilt als Beginn einer Serie von rassistischen Attentaten, die das globale digitale Netzwerk befeuert hat. Allein seit 2017 zählte die „New York Times“ acht rechtsterroristische Gewalttaten mit Dutzenden Toten in den USA.

    Aber auch der Attentäter von Oklahoma City wird in rechten Foren auch schon als Referenzpunkt für die eigene Szene genannt. Der junge Mann ermordete bei einem Bombenanschlag 1995 mehr als 160 Menschen.

    „Kapitalistische Eliten“

    Als „Master-Narrativ“ nennt der Terrorismus-Experte Peter Neumann vom Londoner King’s College das Werk von Camus, der hinter dem „Austausch“ eine gezielte Aktion der „kapitalistischen Eliten“ sieht. Ziel: Durch Migrationspolitik einen „Menschentyp“ zu schaffen, der „austauschbar“ sei – um diesen für die Interessen der Wirtschaft „verwertbar“ zu machen.

    Tatsächlich ist der Titel von Camus‘ Buch in Frankreich zu einem festen Begriff geworden, der in vielen Debatten über die Einwanderungspolitik auftaucht. Bei vielen Konservativen und insbesondere unter den Rechtsextremisten von Marine Le Pens Partei Rassemblement National ist er längst salonfähig geworden.

    In Deutschland vertreibt der neurechte Antaios-Verlag das Buch von Camus. Und auch AfD-Politiker bedienten sich in der Vergangenheit einer ähnlichen Rhetorik: Beatrix von Storch twitterte im Mai 2016: „Die Pläne für einen Massenaustausch der Bevölkerung sind längst geschrieben.“

    Miese Wahlergebnisse

    Camus war ein in der Partei der Sozialisten. Im Mai 2019 trat er bei den Europawahlen als Spitzenkandidat der Liste „La Ligne Clair“ (Die klare Linie) an, die zwar für den Verbleib Frankreichs in der EU eintrat, im Gegenzug jedoch forderte, Afrika (gemeint waren Migranten und Flüchtlinge aus afrikanischen Ländern) aus Europa zu „entfernen“. Auf mehr als 1578 Wählerstimmen (0,01 Prozent) kam Camus mit seiner Liste nicht.

    Ein 73 Jahre alter Franzose mit weißem Bart hier, kryptierte Internetplattformen und soziale Netzwerke dort sind Symbiose einer extrem rechten Strategie.

    Twitter und Facebook ist die offensichtliche Seite, das Internet für den eigenen Machtzuwachs zu nutzen. Manches wird hier von den Betreibern der Plattformen gelöscht, Hass wird nicht selten mit Gegenargumenten begegnet.

    Neonazis auch aus Deutschland haben in den vergangenen Jahren nach und nach dieses Netzwerk für ihre Propaganda genutzt. Die Plattform „8chan“ ist die für viele verborgene Seite des rechtsextremen Netzes. Hier wird weder gelöscht noch moderiert.

    Utopie der freien Meinung

    Wer nur Minuten in den Chats verbringt, findet eine Vielzahl von rassistischen Sprüchen, Hakenkreuzen oder Glorifizierungen von rechter Gewalt. Der Amerikaner Frederick Brennan hatte „8chan“ 2013 erfunden. Seine Idee: eine Utopie der freien Meinung, ohne Zensur.

    Wer anderswo mit radikalen Äußerungen blockiert wurde, zog zu „8chan“. Mittlerweile ist das Forum ein Lautsprecher für rassistisch motivierte Attentäter. Der Hass erzeugt ein Grundrauschen, es soll junge radikalisierte Männer zu Taten anstacheln, das ist die Strategie hinter der Masse an Posts, Bildern und Kommentaren.

    Gründer Brennan sagt heute auf Twitter: Schließt die Plattform! Er hat sich aus dem Geschäft zurückgezogen. Doch Anrufe von Journalisten bekommt er noch immer, nach jedem Attentat.

    „Going Breivik“

    Neu ist rechter Terror nicht. Doch mit dem Wachsen der digitalen Foren hat sich ihre Strategie verändert. Plattformen wie „8chan“ fungieren als Resonanzraum für Rechte. Neben Hass streuen die Nutzer Sprüche, Ironie und Ideologie in Sprache und Bildern, die junge Menschen auch aus anderen sozialen Netzwerken kennen, die sie mit ihren Freunden teilen.

    Bestimmte Code-Wörter strahlen Korpsgeist aus. So wie „Going Breivik“, eine Phrase, die bei „8chan“ bedeutet, sich der extrem rechten Sache vollends hinzugeben. Nach jedem der vergangenen Attentate war „8chan“ Thema. Doch passiert ist wenig.

    Jetzt, nach dem Attentat in El Paso, hat das IT-Unternehmen Cloudflare, das bislang „8chan“ technisch vor Cyberattacken geschützt hat, den Dienst für die Plattform aufgekündigt. Experten vermuten schon jetzt, dass sich schon bald ein neues Forum gründen könnte. Denn, so die Argumente, die Technik lasse sich verbieten. Aber damit ende nicht der Hass.