Düsseldorf. Eine aktuelle Studie erlaubt erschreckende Einblicke in den Antisemitismus in NRW und rechnet mit dem Einfluss sozialer Medien ab.
Die am Dienstag vorgestellte Studie zu antisemitischen Vorurteilen in NRW seit dem Terrorangriff der Hamas aus Israel im Herbst 2023 hat besorgniserregende Ergebnisse: Bis zu 24 Prozent der Befragten haben demnach judenfeindliche Einstellungen. Besonders verbreitet sei der Antisemitismus unter Jugendlichen, so die Autoren. 16- bis 18-Jährige seien „auffällig israelfeindlich eingestellt“, heißt es. Über Tiktok und andere soziale Medien werde die Judenfeindlichkeit schon in die Kinderzimmer transportiert, warnte die Antisemitismusbeauftrage des Landes NRW, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Aber Antisemitismus ist nicht nur unter Jüngeren, sondern in weiten Teilen der Gesellschaft verankert So fordern der Umfrage zufolge insgesamt 47 Prozent der Befragten, einen „Schlussstrich unter die Vergangenheit“ des Holocausts zu ziehen.
Entwicklung nach dem Hamas-Angriff aus Israel ist Teil der Studie
Vor zwei Jahren hatten die NRW-Antisemitismusbeauftragte Leutheusser-Schnarrenberger sowie NRW Innenminister Herbert Reul (CDU) bei den Universitäten Düsseldorf und Passau eine Studie zu „Antisemitismus in der Gesamtgesellschaft von NRW im Jahr 2024“ in Auftrag gegeben. Diese „Dunkelfeldstudie“ liegt nun vor und beinhaltet auch die gesellschaftliche Stimmung nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, die andere vergleichbare Studien nicht abbilden.
Die Methodik der Studie
Für die Antisemitismus-Studie hat das Institut für Demoskopie Allensbach 1300 Personen ab 16 Jahren im Zeitraum vom 8. März bis 13. April 2024 befragt. Laut dem Institut sind die Ergebnisse repräsentativ für die Bevölkerung in NRW.
Die Studie unterscheidet zwischen „religiösem Antisemitismus“, „offenem und getarnten Antisemitismus“, „sekundärem Antisemitismus“ (hier ist zum Beispiel der Ruf nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit gemeint) und „israelbezogenem Antisemitismus“.
„Antisemitismus ist weiter verbreitet, als wir bisher gedacht haben“, erklärte der Sozialwissenschaftler Prof. Heiko Beyer von der Universität Düsseldorf. Frühere Studien wie zum Beispiel die „Mitte-Studien“ der Ebert-Stiftung bezifferten den Anteil der Menschen mit antisemitischen Einstellungen auf etwa zehn Prozent. In der NRW-Umfrage würden zumindest bei manchen Formen des Antisemitismus doppelt so hohe Werte erreicht, was auch auf die Folgen des Hamas-Angriffs auf Israel und den sich zuspitzenden Nahostkonflikt zurückzuführen sein dürfte. Zum Beispiel glaube rund ein Viertel der Befragten, dass der Zentralrat der Juden Unfrieden in Deutschland schüre und darum abgeschafft werden solle. Fast jeder Zweite stimme offen oder verdeckt der Aussage zu, der jüdische Einfluss in der Welt sei übermäßig groß.
Wie Tiktok & Co. den Antisemitismus bis ins Kinderzimmer transportieren
Unter den vielen besorgniserregenden Befunden aus dieser neuen Studie sticht einer hervor: „Dass gerade bei Jugendlichen ein israelfeindliches Weltbild besonders ausgeprägt ist, ist erschreckend und zeigt, dass beim Wissen über Israel und über den Nahostkonflikt Nachholbedarf besteht“, sagte Leutheusser-Schnarrenberger.
Die Verantwortung dafür, dass 16- bis 18-Jährige „auffällig israelfeindlich“ eingestellt seien, schreiben die Autoren den sozialen Medien zu. Prof. Lars Rensmann, Politikwissenschaftler an der Universität Passau sagte: „Das direkte Wirken ins Kinderzimmer führt über die sozialen Medien, insbesondere über das besonders populäre Medium Tiktok. Das ist ungefähr so, als würde man kleinen Kindern harten Alkohol und Zigaretten ins Kinderzimmer stellen.“
Rensmann fordert daher einen neuen Umgang mit sozialen Medien. „Sie sind die Propagandaform des 21. Jahrhunderts, die direkt ins Kinderzimmer wirken.“ Man müsse die Betreiber der Plattformen für antisemitische Inhalte und andere Hassreden und Desinformation verantwortlich und haftbar machen. „Dafür brauchen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag“, so der Forscher. Soziale Medien seien „so etwas wie die Sendemasten von Hass und Hetze“, bekräftigte Innenminister Herbert Reul.
Judenfeindlichkeit ist in Städten weiter verbreitet als auf dem Land
Die Studie gibt Aufschluss, welche Gruppen und Milieus in NRW besonders anfällig seien für Antisemitismus. Demnach hat die Landbevölkerung „signifikant niedrigere Antisemitismuswerte“ als die Großstadtbevölkerung. Menschen mit Migrationshintergrund seien nicht judenfeindlicher als Menschen ohne Migrationshintergrund, allerdings seien judenfeindliche Einstellungen unter Musliminnen und Muslimen weiter verbreitet als unter Christinnen und Christen oder Atheisten. Wer häufig ein Gotteshaus besuche, tendiere stärker zu Antisemitismus als weniger Religiöse, heißt es.
Wählerinnen und Wähler der AfD und der Freien Wähler seien erheblich judenfeindlicher eingestellt als Anhänger von CDU, SPD, FDP und Grünen. Die Bildung hat der Umfrage zufolge kaum einen Einfluss auf antisemitische Einstellungen. Menschen mit höherer Bildung könnten allerdings ihren Antisemitismus in Umfragen besser verstecken als andere. „Bildung macht kaum weniger vorurteilsanfällig“, resümiert Prof. Rensmann.
Hier einige konkrete Umfrageergebnisse, aus denen hervorgeht, wie weit Antisemitismus in NRW verbreitet ist:
21 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu: „Ich würde niemals in eine Synagoge gehen.“ Zwölf Prozent glauben, die jüdische Religion legitimiere Gewalt gegen Kinder. Rund ein Viertel der Befragten stimmt der Verschwörungstheorie vom übermäßigen Einfluss „der Juden“ zu. Rund 40 Prozent der Befragten stimmten zu, dass ihnen „durch die israelische Politik die Juden immer unsympathischer werden“.
Die Autoren der Studie raten der Politik unter anderem, soziale Medien stärker zu regulieren und Kinder und Jugendliche möglichst früh vor antisemitischer Propaganda zu schützen. Gotteshäuser, Gemeinden und religiöse Verbände müssten stärker in die Pflicht genommen und auf Antisemitismus überprüft werden. Mehr persönliche Begegnungen mit Jüdinnen und Juden seien sinnvoll, und die „Grenzen des Sagbaren“ müssten klarer als bisher gezogen werden.
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