Berlin. Die Russland-Expertin Tatiana Stanovaya erklärt, was hinter Putins neuen Drohungen steckt – und wie realistisch ein Atomwaffen-Einsatz ist.

Auch in Deutschland nehmen die Forderungen zu, den Ukraine-Krieg durch Verhandlungen zu beenden. Die russische Politologin Tatiana Stanovaya von der Berliner Denkfabrik Carnegie Russia Eurasia Center sieht hierfür im Gespräch mit unserer Redaktion wenig Spielraum.

Frau Stanovaya, die USA und Großbritannien erwägen offenbar, der Ukraine Langstreckenwaffen für Angriffe auf Ziele tief in Russland zu erlauben. Wie würde das den Krieg beeinflussen?

Tatiana Stanovaya: Für Präsident Wladimir Putin ist der „Sieg“ nur eine Frage des Preises, den er, der russische Staat, die Wirtschaft oder die Menschen bereit sind zu zahlen. Das Kalkül in Kiew und zu einem gewissen Grad im Westen ist: Die Schläge auf Ziele tief im Landesinneren könnten sich politisch so auswirken, dass die Unzufriedenheit der russischen Gesellschaft mit dem Verlauf des Krieges wächst.

Geht die Rechnung auf?

Stanovaya: Bislang scheint die Rechnung nicht aufzugehen. Der Vorstoß der Ukrainer in die russische Region Kursk hatte einen sehr begrenzten Effekt. Jüngste Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Public Opinion Foundation (FOM) zeigen, dass das anfangs erhebliche Interesse der Russen an den Ereignissen in Kursk verblasst ist. Das Leben geht wie gewöhnlich weiter. Das Gleiche gilt für die großangelegten Drohnenangriffe. Anstatt die öffentliche Meinung gegen den Krieg zu drehen, haben diese Attacken oft eine stärkere anti-ukrainische Stimmung befeuert, ganz zu schweigen von anti-westlichen Einstellungen. Diese Angriffe schwächen Putins Position nicht. Vielmehr führen sie dazu, dass sich die Menschen um die Flagge scharen. Meiner Meinung nach werden Attacken mit Langstreckenraketen die gleiche Wirkung haben.

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Putin warnt: Sollten Langstreckenraketen geliefert werden, befänden sich die Nato-Länder im Krieg mit Russland. Gleichzeitig droht er „entsprechende Entscheidungen“ an. Wie könnten die aussehen?

Stanovaya: Wir sehen jetzt den Versuch Putins, das Narrativ zu verändern. Er signalisiert, dass der Einsatz von modernen Präzisions-Langstreckensystemen für Schläge tief in Russland eine radikale strategische Verschiebung bedeuten würde. Eine, die besagt, dass nicht die Ukraine russische Ziele direkt angreift, sondern der Westen. Die Art, wie er dies einordnet, legt nahe, dass dies ein inakzeptables Überschreiten roter Linien wäre. Das Problem mit diesen „roten Linien“ ist, dass der Begriff stark entwertet wurde. Putin hat immer wieder Warnungen und Drohungen ausgegeben, ohne dementsprechend zu handeln. Er verhält sich wie ein Junge, der blinden Alarm schlägt.

Ukrainische Soldaten fahren auf einem gepanzerten Fahrzeug an der russisch-ukrainischen Grenze.
Ukrainische Soldaten fahren auf einem gepanzerten Fahrzeug an der russisch-ukrainischen Grenze. © DPA Images | Evgeniy Maloletka

Womit rechnen Sie jetzt?

Stanovaya: Was als Nächstes kommt, ist die Eine-Million-Dollar-Frage. Russland könnte in Erwägung ziehen, Waffen und Militärtechnologie in Regionen zu liefern, von wo es sensible Ziele in Ländern treffen kann, die Kiew mit Waffen versorgen. So könnte Russland den Iran beliefern, um amerikanische Truppen im Nahen Osten ins Visier zu nehmen.

Erhöht Putin das Risiko?

Stanovaya: Ich glaube, dass sich Russlands Antwort wahrscheinlich eher darauf konzentrieren wird, den USA und ihren Verbündeten Schmerzen zu verursachen, als sich für eine direkte militärische Vergeltung zu entscheiden. Auf der anderen Seite offenbart Putins jüngste Warnung eine angespanntere Position. Dies legt nahe, dass er die Notwendigkeit fühlt, den Einsatz zu erhöhen und vor einer potenziellen Veränderung im Wesen des Konflikts zu warnen. Vieles wird davon abhängen, wie die Langstreckenwaffen genutzt und die Ziele ausgewählt werden und wie hoch der zugefügte Schaden sein wird. Allerdings scheint es, dass wir auf eine gefährliche Eskalation zusteuern.

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Halten Sie es für denkbar, dass Russland an einem gewissen Punkt taktische Atomwaffen einsetzt?

Stanovaya: Meines Erachtens besteht der Kernpunkt darin, dass sich Putin selbst noch nicht voll über die Bedingungen für den Einsatz nuklearer Waffen im Klaren ist. Auf der einen Seite könnte eine solche Aktion die Lage drastisch verändern. Sie könnte die Welt erschüttern, Putins Entschlossenheit demonstrieren und vielleicht die Unterstützung des Westens für die Ukraine untergraben. Einige Pro-Nuklear-„Experten“ in Russland befürworten das. Andererseits würde dies jedoch das Risiko einer großen nuklearen Eskalation in sich bergen und Russlands Ansehen in der nicht-westlichen Welt auf Jahrzehnte hin beschädigen. Die atomare Option ist letzten Endes die Wahl eines verzweifelten Führers, der aufs Ganze geht.

Trifft dieser Kurs in Russland auf Zustimmung?

Stanovaya: Fast niemand in der russischen Führung scheint zu verstehen, wann und wie genau Putin zur nuklearen Option greifen könnte. Klar ist jedoch: Die russische Elite glaubt fest daran, dass Atomwaffen Russland vor der sogenannten „strategischen Niederlage“ schützen, die der „kollektive Westen“ nach Ansicht von Moskau dem Land zufügen will.

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Russland hat in der Region Kursk eine Gegenoffensive gegen die ukrainischen Truppen gestartet. Wie lange kann die Ukraine ihre Positionen halten?

Stanovaya: Von einem politischen Standpunkt aus betrachtet, kann Russland die Präsenz ukrainischer Truppen auf seinem Territorium monatelang, ja sogar jahrelang ohne bedeutende politische Konsequenzen tolerieren. Putins Kalkül ist einfach: Der Angriff – selbst eine länger anhaltende Kontrolle russischen Territoriums – verbessert nicht die militärische Kapazität der Ukraine. Im Gegenteil, er schwächt sie im Umgang mit dem russischen Druck. Die ukrainische Attacke trägt auch dazu bei, dass der Zusammenhalt in der russischen Gesellschaft gestärkt wird. In Putins Augen ändern diese Verschiebungen entlang der Frontlinie nichts am größeren Bild. Seiner Einschätzung nach ist die Ukraine zum Scheitern verurteilt, und Russland kann nicht besiegt werden.

Erste Bilder sollen russische Gegenoffensive in Kursk zeigen

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    Was ist Putins Strategie für die kommenden Monate?

    Stanovaya: Was viele westliche Beobachter übersehen, wenn sie sich hypothetische Kompromisse anschauen: Putin kämpft nicht um ein Stück ukrainisches Territorium – er kämpft um die Ukraine als Ganzes. Er will Kiew zu einer De-facto-Kapitulation zwingen. Sein Kernziel in diesem Krieg besteht darin, die Ukraine „freundlich“ zu machen. Putins breitere Strategie ist, Bedingungen zu schaffen, die die Ukraine zwingen, eiserne Verpflichtungen einzugehen. Das würde gewährleisten, dass „ukrainische Nationalisten“ – die de facto pro-westlich und anti-russisch ausgerichtet wären – niemals an die Macht kommen. Solche Garantien beziehen ein drastisch verkleinertes Militär, einen neutralen Status und eine neu geschriebene Verfassung mit ein.

    Kann Putin damit Erfolg haben?

    Stanovaya: Obwohl ich glaube, dass Putin diese Ziele niemals erreichen wird, ist es entscheidend, sie im Gedächtnis zu behalten. Er setzt auf den Zusammenbruch des gegenwärtigen Staates. Er beabsichtigt, die Ukraine zu unterhöhlen, indem er die kritische Infrastruktur trifft, und darauf zu warten, dass die Front kollabiert. Die größte Schwachstelle in Putins Taktik ist, dass er das Gefühl hat, der Initiative beraubt zu sein. Sein Sieg hängt davon ab, seine Gegner zu schwächen. Dies macht seine Politik mehr reaktiv als proaktiv.

    Der Zermürbungskrieg mit der Ukraine dauert nun bereits mehr als zweieinhalb Jahre. Sehen Sie einen Punkt, an dem Putin die massive Unzufriedenheit der Bevölkerung oder gar den Widerstand von Generälen und Oligarchen fürchten muss?

    Stanovaya: Wenn im Laufe des kommenden Jahres nichts wirklich Dramatisches passiert, wird das Regime seine bedeutende Widerstandsfähigkeit beibehalten. Die politische Kontrolle im modernen Russland ist beispiellos, und sie wird schlimmer. Die Eliten sind machtlos, politisch impotent und hängen in hohem Maße vom Staat ab. Ich sehe nichts, was das ändern könnte – zumindest nicht in absehbarer Zeit. Das größte Hindernis, das die Russen davon abhält, von Putin abzurücken, ist der Mangel an Alternativen.

    Der Westen hat also überhaupt keine Einflussmöglichkeiten?

    Stanovaya: Putins Wahrnehmung mag westlichen Beobachtern seltsam erscheinen. Aber in seiner Sicht können sich Russen nicht gegen ihn erheben, weil er nationalen Interessen dient und strategische Prioritäten schützt. Schieben wir einmal alle Einschränkungen der westlichen Politik beiseite. Der wirksamste Weg für die Ukraine und den Westen zu „gewinnen“ bestünde darin, stark in die Verteidigung der Ukraine zu investieren und ihre Sicherheit und nachhaltige Funktionsfähigkeit zu gewährleisten. Gleichzeitig sollte eine Eskalation vermieden werden, von der Putin oft profitiert. Man sollte einfach auf seinen Abgang warten und anfangen, die Türen für diejenigen Russen zu öffnen, die ihr Land verlassen wollen.

    Wladimir Putin gilt als unangefochten – laut Tatiana Stanovaya wird sich daran auch nicht viel ändern.
    Wladimir Putin gilt als unangefochten – laut Tatiana Stanovaya wird sich daran auch nicht viel ändern. © AFP | Gavriil Grigorov

    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj will die besetzten Gebiete in der Region Kursk als Faustpfand für Verhandlungen mit Russland verwenden. Wie stehen die Chancen hierfür?

    Stanovaya: Stand heute würde ich sagen, dass es keine Chancen hierfür gibt. Erstens wird Putin nicht mit Selenskyj verhandeln. Zweitens wird er keine Kompromisse über russisches Territorium eingehen. Er ist jetzt nicht nur fest entschlossen, die Region Kursk eines Tages zurückzuerobern. Darüber hinaus will er Kiew dazu zwingen, die Krim sowie die vier 2022 annektierten ukrainischen Regionen als russisches Staatsgebiet anzuerkennen. Der einzige Aspekt, der verhandelbar sein könnte, ist die Größe der vier Regionen, da sie nicht vollständig unter russischer Kontrolle stehen.

    Westliche Staats- und Regierungschefs fordern zunehmend Verhandlungen, um den Krieg zu beenden. Was müsste passieren, damit sich Putin an den Verhandlungstisch setzt?

    Stanovaya: Tatsache ist: Der Westen will ebenso wenig mit Putin reden wie die Ukraine. Putin ist zwar bereit, zu verhandeln – aber nur auf der Basis völlig unrealistischer Vorstellungen. Ich glaube, dass im Zeitraum zwischen den kommenden Monaten und einem Jahr ein Waffenstillstand möglich sein könnte. Sollte die Ukraine größere innenpolitische Schwierigkeiten haben, eine Destabilisierung erleben oder Selenskyj politisch verwundbarer werden, könnte etwas wie die Gespräche vom Frühjahr 2022 in Istanbul stattfinden. Ich glaube aber nicht, dass eine tragfähige und haltbare Übereinkunft erreicht werden kann, solange Russland politisch anti-westlich ausgerichtet bleibt. Leider scheint es, dass wir es mit einem Konflikt zu tun haben, der noch Jahre vor sich hin kocht, ohne dass eine Seite eindeutig gewinnt oder verliert.