Berlin/Brüssel. Die Ukraine will grünes Licht für weitreichende Waffen. Was bringt das und wie würde Putin reagieren? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Die Ukraine hofft auf eine Wende im Krieg mit Russland: Bekommt Kiew endlich die Erlaubnis, mit westlichen Waffen Ziele auf russischem Gebiet anzugreifen? In der US-Regierung gibt es Bewegung – aber Wladimir Putin warnt schon, dann wäre die Nato „im Krieg mit Russland“.

Was will die Ukraine in Russland?

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte vor wenigen Tagen in Deutschland: „Wir tragen den Krieg nach Russland – damit Putin bereit ist, Frieden zu suchen.“ Er drängt auf die Erlaubnis, mit weitreichenden westlichen Waffen auch Ziele tief im russischen Hinterland anzugreifen – und er fordert die entsprechende Lieferung von zusätzlichen Raketen und Marschflugkörpern. Die Ukraine ist besorgt, weil ihre Gegenoffensive nicht wie erhofft wirkt und Russland jetzt gezielt ihre Energieinfrastruktur zerbombt. Befürchtet wird ein Katastrophen-Winter für Millionen Ukrainer ohne Strom und Heizung. „Die russischen Schläge werden unmöglich, wenn es uns möglich wird, die Abschussrampen der Okkupanten dort zu vernichten, wo sie sind, und die russischen Militärflugplätze und die Logistik dazu“, meint Selenskyj.

Ein Atacms-Raketensystem der US-Armee. Die USA haben der Ukraine solche Systeme mit größerer Reichweite geliefert - aber dürfen sie bald auch gegen Ziele in Russland eingesetzt werden? Russlands Präsident Wladimir Putin warnt schon vor einer Kriegsbeteiligung der Nato-Staaten.
Ein Atacms-Raketensystem der US-Armee. Die USA haben der Ukraine solche Systeme mit größerer Reichweite geliefert - aber dürfen sie bald auch gegen Ziele in Russland eingesetzt werden? Russlands Präsident Wladimir Putin warnt schon vor einer Kriegsbeteiligung der Nato-Staaten. © picture alliance | Photoshot

Wie reagiert Wladimir Putin?

Der russische Präsident Wladimir Putin warnt den Westen deutlich: Durch Angriffe mit westlichen Waffen befänden sich die Nato-Staaten, die USA und die Europäer „im Krieg mit Russland“. Denn die Ukraine könne die weitreichenden Raketen nicht allein einsetzen, sie brauche westliche Hilfe und Satellitensteuerung. Dann werde Russland „entsprechende Entscheidungen als Reaktion auf die Bedrohung treffen“, sagt Putin vage. Der Putin-Vertraute Vyacheslav Volodin, Sprecher der Staatsduma, meint, Moskau werde dann gezwungen sein, stärkere und zerstörerische Waffen gegen die Ukraine einzusetzen. Vize-Außenminister Sergy Ryabkow erklärt, Russland werde jede Lieferung entsprechender US-Raketen zerstören. Moskau geht aber bisher nicht so weit, den Angriff auf militärische Transportwege etwa in Polen anzudrohen. Laut New York Times fürchten US-Geheimdienste eher, dass Russland als Reaktion den Iran bei einem Angriff auf US-Streitkräfte im Nahen Osten unterstützen könnte.

Der russische Präsident Wladimir Putin reagiert scharf auf die mögliche Freigabe westlicher Waffen auch für russische Ziele.
Der russische Präsident Wladimir Putin reagiert scharf auf die mögliche Freigabe westlicher Waffen auch für russische Ziele. © IMAGO/ITAR-TASS | IMAGO/Alexander Kazakov

Um welche Waffen geht es? Kommen deutsche Taurus zum Einsatz?

Es geht zum einen um amerikanische Atacms-Raketen (Army Tactical Missile Systems) – die begehrte Version mit einer Reichweite von 300 Kilometern haben die USA erstmals im Frühjahr geliefert, nach unbestätigten Berichten über hundert Stück. Sie sind ausdrücklich nur „zur Verwendung innerhalb ihres eigenen Territoriums“ vorgesehen, wie der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan erklärte. Mehrmals hat die Ukraine mit den Raketen Flugplätze auf der Krim und Stellungen im besetzten Südosten angegriffen. Außerdem geht es um Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow, die Großbritannien, Frankreich (dort heißen sie Scalp) und Italien geliefert haben – ebenfalls nur für Ziele in der Ukraine. Sie werden von Flugzeugen in der Luft gestartet, haben eine Reichweite von 250 Kilometern, können Bunker und Munitionsdepots zerstören.

Ein Nato-Kampfjet mit Marschflugkörpern vom Typ Storm Shadow. Solche Waffen hat auch die Ukraine erhalten.
Ein Nato-Kampfjet mit Marschflugkörpern vom Typ Storm Shadow. Solche Waffen hat auch die Ukraine erhalten. © picture alliance | Photoshot

Mit Storm Shadows hat die Ukraine Ziele auf der Krim vernichtet, darunter ein Kriegsschiff und ein U-Boot, und zuletzt eine Kommandozentrale im russisch besetzten Luhansk angegriffen. Nato-Militärs loben die Waffen als „hoch effektiv, sehr präzise gegen gut geschützte Ziele“. Die Ukraine verfügt über eine sehr begrenzte Stückzahl, jeder Marschflugkörper kostet fast eine Million Euro. Der britische Premier Keir Starmer wollte Kiew längst freie Hand geben, doch US-Präsident Joe Biden hat ihn gebremst. Theoretisch könnte es in der Debatte auch um die deutschen Taurus-Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 Kilometern gehen. Kanzler Olaf Scholz (SPD) hat das aber so klar abgelehnt, dass Selenskyj entsprechende Forderungen nicht mehr erneuert.

Was könnten westliche Raketen erreichen?

Nach Schätzungen von Militäranalysten des US-Instituts für Kriegsstudien könnten mit den amerikanischen Atacms-Raketen etwa 250 militärische Ziele in Russland getroffen werden: Flugplätze, Militärstützpunkte, Kommunikationsstationen, Logistikzentren, Treibstofflager und Munitionsdepots. „Ukrainische Langstreckenschläge gegen russische Militärziele im Rücken Russlands sind entscheidend, um die militärischen Fähigkeiten Russlands im gesamten Kriegsgebiet zu schwächen“, so die Analyse. 

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. © Getty Images | Leon Neal

Doch diskutieren ukrainische Militärstrategen auch, ob nicht ein „Demonstrationsschlag“ im Raum Moskau die russische Regierung an den Verhandlungstisch zwingen könne. Selenskyjs Stabschef Andriy Yermak hat in Washington vor wenigen Tage eine Liste potenzieller Ziele vorgelegt. Selensykj spricht vom „Siegesplan für die Ukraine“. Bidens Sicherheitsberater Sullivan winkt ab: „Es gibt keine Wunderwaffe in diesem Konflikt. Diese eine neue Fähigkeit wird keine endgültige Lösung bringen.“ So hat Russland wichtiges Militärgerät bereits außerhalb der 300-Kilometer-Reichweite gebracht, vor allem die Flugzeuge, die zum Abschuss der verheerenden Gleitbomben eingesetzt werden.

Warum gibt es Bewegung in den USA?

Bislang galt die klare Ansage, dass westliche Waffen nicht auf Ziele im russischen Territorium eingesetzt werden würde. Als Ausnahme erlaubt war das im Frühsommer regional begrenzt nur, um die russische Offensive auf Charkiw abzuwehren. Biden fürchtete bisher ebenso wie die Bundesregierung eine Eskalation des Konflikts, bei dem die Ukraine am Ende als Verlierer dastehen könnte, bis hin zum Risiko eines Atombombeneinsatzes, der eine Reaktion auch des Westens erzwingen würde. Skeptiker sahen sich bestätigt, als ukrainische Drohnen im April in Russland eine strategisch wichtige Radarstation zu Frühwarnung von Atomraketen zerstörten – nach Moskauer Militärdoktrin nährt sich das dem Bereich, der den Einsatz von Atomwaffen rechtfertigen könnte.

US-Präsident Joe Biden.
US-Präsident Joe Biden. © AFP | ANDREW CABALLERO-REYNOLDS

Biden-Berater Sullivan nennt nun anlässlich eines Besuchs des Briten-Premiers Starmer im Weißen Haus zwei Gründe für Überlegungen, der Ukraine doch mehr Freiheiten zu geben: erstens die russischen Terrorangriffe auf die zivile Infrastruktur der Ukraine. Und zweitens den russischen Einsatz von Raketen aus Nordkorea und in Kürze offenbar auch von Kurzstreckenraketen Fath-360 aus dem Iran. Außerdem findet unter Sicherheitsexperten in Washington und einigen europäischen Hauptstädten die Argumentation der Ukraine zunehmend Anhänger, dass Russlands Eskalationsdrohungen nicht glaubwürdig seien. Der Kursk-Einmarsch habe gezeigt, dass Russlands rote Linien nur „Bluff“ seien, meint Kiews Verteidigungsminister Rustem Umerov. Der deutsche Militärexperte Michael Rühle, der lange im internationalen Stab der Nato arbeitete, mahnt den Westen aber, weiter mit großer Umsicht vorzugehen: „Dass man eine echte rote Linie überschritten hat, weiß man erst, wenn es zu spät ist.“

Hat die Ukraine keine eigenen Langstreckenwaffen?

Als Alternative zu westlichen Waffen entwickelt die Ukraine eigene Langstreckendrohnen, von denen dieses Jahr schon 10 000 Stück produziert werden sollen, und Marschflugkörper. Bereits jetzt treffen diese Drohnen regelmäßig Ziele tief im russischen Hinterland, oft über mehr als tausend Kilometer entfernt – Militäranlagen, Öldepots und Raffinerien, aber auch das Gebiet rund um Moskau. Auch ballistische Raketen hat die Ukraine schon im Einsatz, die angeblich bis zu 3000 Kilometer weit fliegen können.