Washington/Philadelphia. Wie ein wilder Stier wütet der Republikaner im TV-Duell – auch weil die Moderatoren ihm nicht jede Lüge durchgehen lassen.
Sie reichte ihm am Anfang demonstrativ die Hand. Danach hielt Kamala Harris im TV-Duell gegen Donald Trump ihren republikanischen Widersacher im Rennen um das Weiße Haus über 100 Minuten lang mit Lächeln, Kopfschütteln, messerscharfen Zurückweisungen und beinharten Attacken konstant auf Abstand.
Die demokratische Präsidentschaftskandidatin, die nach vierjähriger Pause erstmals auf einer Debattenbühne stand, vermochte schon nach wenigen Minuten, dem zunächst betulich wirkenden Herausforderer unter die Haut zu gelangen.
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Trump zeigte sich „wie ein Stier“
Sie warf Trump vor, anders als sie, für das amerikanische Volk „keinen Plan zu haben“, weil er am Ende immer nur an sich denke. Fortan präsentierte sich der 78-Jährige, der fast durchweg mit heruntergezogenen Mundwinkeln grimmig blickte, nach den Worten eines US-Kolumnisten „wie ein Stier, der vor lauter Wut das rote Tuch des Matadors nicht mehr sieht“.
Dabei hatten Trumps Berater vorher mit Engelszungen auf ihn eingeredet, sich nicht ködern zu lassen, auf persönliche Beleidigungen zu verzichten und nur eng entlang der Sachthemen klarzumachen, dass es Amerika nach bald vier Jahren Biden/Harris schlechter gehe als unter seiner Präsidentschaft, die 2021 auslief.
Bereits wenige Minuten nach Ende des Aufeinandertreffens der beiden Bewerber um das höchste Staatsamt schoben Trump-Büchsenspanner dem Moderatorenteam des Senders ABC die Schuld dafür zu, dass Trump in ersten Blitzumfragen als Verlierer erschien.
Moderatoren korrigieren Trump-Lügen
David Muir und Linsey Davis unterzogen Trump mehrfach einem Faktencheck, bei dem der Ex-Präsident nackt auf der Lichtung stand. Zum ersten Mal, als Trump in der Abtreibungsdebatte gegen alle Tatsachen behauptete, die Demokraten würden bis zum neunten Schwangerschaftsmonat Abbrüche befürworten und sogar nach der Geburt Babys „exekutieren”. In keinem einzigen Bundesstaat, so Linsey Davis, sei das legal.
Auch beim Thema illegale Einwanderung, das sich bei Trump wie ein roter Faden durch nahezu alle Antworten zog, verlor der Republikaner sein Gesicht. Um seine ebenfalls von keiner staatlichen Behörde bestätigte Aussage zu stützen, dass unter der Verantwortung der Regierung Joe Biden/Kamala Harris über 20 Millionen Einwanderer aus über 160 Ländern ins Land gekommen seien, darunter „Millionen Kriminelle, Mörder und Geisteskranke und Kinderschänder“, verbreitet er eine seit Tagen in rechtspopulistischen Kreisen zirkulierende Fantasiegeschichte. Danach würden in Springfield/Ohio Flüchtlinge die Haustiere (Hunde und Katzen) von Amerikanern essen. David Muir zitierte die örtliche Verantwortliche: „Davon ist uns nichts bekannt.”
Harris hält Trump Gesetzesblockade vor
Mit jeder Korrektur wurde Trump zügelloser. Er nannte Harris eine „Marxistin“, die Amerika zerstört habe und das Land in ein „Venezuela auf Steroiden” verwandeln werde. Immer wieder behauptete Trump, die USA, die wirtschaftlich weltweit am besten die desaströse Corona-Pandemie überwunden haben, seien „eine Nation im Niedergang”; auch und vor allem, weil die Demokraten Millionen von Illegalen importiert hätten.
Harris hielt dem entgegen, dass bereits vor Monaten ein überparteilich ausgearbeitetes Gesetz vorlag, das die Situation an der mexikanischen Grenze erheblich verbessert habe. Trump aber habe die Republikaner angewiesen, das Projekt zu „killen“, um damit lieber Wahlkampf zu machen.
Die 59-Jährige, der bisher abgesprochen wurde, frei und ohne Teleprompter eine Debatte überstehen zu können, zeigte sich durchweg kontrolliert, emotional stabil, faktensicher und präsidiabel. Schon zu Beginn warnte sie das Publikum an den Bildschirmen zu Hause: „Sie werden eine Menge Lügen hören.“
Harris gibt die Staatsanwältin
Anders als Trump, der fortwährend geradeaus starrte, wandte sich Harris ihm immer wieder direkt zu. Gestik und Mimik verrieten ihre berufliche Prägung als Staatsanwältin. Sie sprach zu Trump so, wie sie in vielen Prozessen zu Angeklagten gesprochen hatte. Trump war die Kreuzverhörtechnik erkennbar unangenehm.
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Der Ex-Präsident war so, wie man ihn seit Bekanntgabe der ersten Kandidatur 2015 kennt: reizbar, mimosenhaft, egomanisch, polternd, der Wahrheit oft meilenweit fern und in den Sachverhalten kraftmeierisch unterkomplex. Abermals behauptete er, dass unter seiner Ägide die Kriege in der Ukraine und in Gaza nie geschehen wären. Und dass er beide Konflikte im Handumdrehen beilegen würde. Wie, das sagte er nicht. Kamala Harris gab zurück, dass der russische Präsident heute „in Kiew stehen würde”, wäre Trump am Ruder. Putin, so die Kalifornierin, würde Trump „zum Mittagessen verspeisen“.
Große Mühe, sympathisch zu wirken für moderatere, noch unentschlossene Wählerschichten, auf die er dringend angewiesen ist, machte sich Trump nicht. Sein wichtigstes Ziel – er wollte Harris komplett in Sippenhaft nehmen für die um die Stichworte Inflation, illegale Einwanderung und hohe Verbraucherpreise kreisende Politik Joe Bidens – wurde nach Ansicht von Analysten in mehreren US-Medien „verfehlt”.
Harris fordert Trump zu zweitem Duell heraus
Erst nach 100 Minuten fiel Trump die Anmerkung ein, dass Harris seit bald vier Jahren in der Mitverantwortung steht und darum viele ihrer Ankündigungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik längst hätte umsetzen können. Versuche, Harris aus dem Konzept zu bringen, schlugen auch deshalb fehl, weil sein Mikrofon abgeschaltet war, wenn die Demokratin das Wort hatte.
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Sichtbar aufgeregt reagierte Trump auf mehrere Versuche Harris‘, ihm den selbst verliehenen Nimbus eines großen Staatsmannes zu nehmen. Andere Regierungschefs lachten über ihn, sagte sie unter Verweis auf ihre vielen Staatsbesuche. Führende Militärs hielten den 78-Jährigen für „eine Schande“. Das muss auch Pop-Superstar Taylor Swift gedacht haben. Nach monatelanger Zurückhaltung sprach sie sich kurz nach Ende der Debatte in sozialen Medien offiziell für die Wahl von Harris aus.
Die amtierende Vizepräsidentin, die in ihrem Schlusswort das Versprechen erneuerte, eine „neue Seite aufzuschlagen“ und für alle Amerikaner ungeachtet der Parteipräferenz agieren zu wollen („Ich habe nur einen Kunden – das Volk“), war sich ihres von Kommentatoren bescheinigten Debattenerfolgs offenbar so sicher, dass sie Trump ein zweites Aufeinandertreffen im Oktober angeboten hat. Von dort kam bisher noch keine Reaktion. Trump, kein Wunder, hält sich selbst für den eindeutigen Gewinner.
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