Chicago. Was für ein Aufritt: Zum Auftakt des Parteitags der Demokraten hält Biden eine kraftvolle Rede. Vom vergreisten Präsidenten: keine Spur.
Und das auch noch weit nach Mitternacht! Hätte Joe Biden vor sieben Wochen im TV-Duell gegen Donald Trump auch nur annähernd so klar, kraftvoll und entschlossen geredet wie am späten Montagabend bei seiner inoffiziellen Abschiedsrede auf dem Demokraten-Parteitag in Chicago, der noch fünf Monate amtierende Präsident der Vereinigten Staaten wäre womöglich noch heute Kandidat seiner Partei für die Wahl im November.
Keine Spur von mentaler Schwäche. Stattdessen energische, fast wütende Worte packte der 81-Jährige in eine fast 80-minütige Rede, die als informelle Staffelstab-Weitergabe an Vize-Präsidentin Kamala Harris diente, die an seiner statt gegen Herausforderer Trump antreten wird.
„Sie ist zäh, sie ist erfahren und sie hat eine riesige Integrität”, sagte Biden voll des Lobes, „sie wird eine historische Präsidentin sein, auf die wir alle stolz sein können.” Biden forderte die Amerikaner auf, unbedingt „eine Staatsanwältin ins Oval Office zu schicken, nicht einen verurteilten Straftäter”. Harris, die später zu ihm auf die Bühne kam und ihren „Boss” dankbar umarmte, verfolgte die Rede sichtlich angefasst von der Ehrentribüne.
Nach einführenden, hochemotionalen Worten und Liebeserklärungen von First Lady Jill Biden und seiner ältesten Tochter Ashley, die in der „United Arena” bei Tausenden für feuchte Augen (auch bei Biden selbst) sorgten, wurde der vor vier Wochen von der Kandidatur für eine zweite Amtszeit zurückgetretene Präsident mit ohrenbetäubendem, lang anhaltendem Beifall bedacht. Die Arena, in der sonst die NBA-Basketballer der „Chicago Bulls“ zu Hause sind, verwandelte sich in ein Meer von „Wir lieben Joe”-Plakate. Die „Danke, Joe”-Rufe wollten nicht verstummen.
Biden wurde zum Helden geputscht
Unter dem Firnis der laut Parteifreunden „heldenhaften Selbstaufopferung” eines Mannes, der 50 Jahre lang auf den Top-Job hingearbeitet hat und ihn altersschwächebedingt binnen vier Wochen verlor, tummeln sich gleichwohl Erzählstränge, die wohl erst in einigen Jahren von Historikern erschöpfend rekonstruiert sein werden.
Offiziell stellte Biden seine Ambitionen auf eine zweite Amtszeit am 21. Juli aus rationalen Erwägungen ein. Weil er nach dem TV-Debatten-Desaster mit Trump eingesehen habe, dass ein Festhalten an der Kandidatur seine Partei im November massiv beschädigt hätte und der Damm gegen Trump wahrscheinlich gebrochen wäre. Und damit vielleicht die amerikanische Demokratie. Inoffiziell hält sich der 81-Jährige immer noch für befähigt, Trump wie schon 2020 ein zweites Mal zu schlagen.
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Offiziell geschah der erste Amtsverzicht eines amtierenden Präsidenten seit 56 Jahren aus freien Stücken. Inoffiziell ist der von 14 Millionen Amerikaner in den Vorwahlen gewollt gewesene Biden Opfer eines „Putsches” geworden, wie nicht nur die New York Times-Kolumnistin Maureen Dowd schreibt.
Den Strippenziehern dahinter - Nancy Pelosi, Ex-Sprecherin des Repräsentantenhauses, Barack Obama, Ex-Präsident, Chuck Schumer, Mehrheitsführer im Senat, und Hakeem Jefferies, Chef der Demokraten im Repräsentantenhaus - sei Biden unterschiedlich aber nachhaltig gram, heißt es.
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US-Präsident im Dienst seiner Partei
Von diesen Narben, Frustrationen und Kränkungen war zum Auftakt der viertägigen „convention” am Lake Michigan erwartungsgemäß an keiner Stelle die Rede. Amerikas Demokraten sehen ausschließlich nach vorn und nicht mehr zurück.
Biden bilanzierte trotzdem stolz seine (gemeinsam mit Harris verantwortete) Regierungsbilanz, die unter den widrigen Vorzeichen der Corona-Pandemie laut Historikern „hervorragende Noten” verdient. Stichworte: 16 Millionen Jobs geschaffen. Milliardenschwere Gesetze zur Erneuerung der Infrastruktur verabschiedet. Millionen Familien durch finanzielle Zuwendungen stabilisiert. Und vieles mehr.
Biden beschwor einmal mehr die Gefahren für „Amerikas Seele”, die eine Rückkehr Trumps bedeuten würde. Und er stellte sich unmissverständlich in den Dienst der neuen Sache: Kamala Harris und Vize-Präsidentschaftskandidat Tim Walz auf ihrem ambitionierten Weg ins Weiße Haus nach Kräften zu unterstützen. Biden nannte es die „beste Entscheidung seiner gesamten Karriere”, Harris`vor vier Jahren als Vize-Präsidentin an seine Seite geholt zu haben.
Biden hat noch viel vor
Aber er lässt sich nicht aufs Abstellgleis schieben. Bis zum 20. Januar 2025, dem Tag des offiziellen Machtwechsels in Washington, will er mit voller Kraft weitermachen, hatte er bereits vorher klargestellt. Heißt: dabei helfen, die „Kosten für hart arbeitende Familien zu senken” und „unsere Bürgerrechte zu verteidigen”.
Heißt: weiter gegen Waffengewalt anzukämpfen und zu versuchen, durch millionenschwere Forschungsgelder die Geißel Krebs zu besiegen. Heißt: weiter der Ukraine im Angriffskrieg gegen Putin-Russland die Stange zu halten und den Krieg Israels in Gaza durch einen Waffenstillstand inklusive Geiselbefreiung zu beenden.
Heißt außerdem: die Weichen für eine Reform des Obersten Gerichtshofs zu stellen, wo eine konservativ-ideologische Schlagseite besteht, die auf Ernennungen seines Vorgängers Donald Trump zurückgeht.
Mit anderen Worten: Biden sieht sich weiter als Aktiv-Posten mit Gestaltungsanspruch. Wie sich das mit den Profilierungsnöten von Harris zusammenpasst, muss sich noch zeigen. Zumal Joe Biden davon ausgeht, dass Harris/Walz die von ihm begonnene Arbeit zum sozialverträglichen Umbau der fossil getriebene Industriengesellschaft in eine grüne, klimaschützende Zukunft im Wahlkampf fortsetzen werden.
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