Berlin. Militärexperte Carlo Masala hält den Einsatz von „Mardern“ bei Gefechten in Kursk für legitim. Er glaubt nicht an eine Rüge von Scholz.

Die Ukraine hat einen unerwarteten Vorstoß über die russische Grenze gestartet – offenbar mit Kriegsgerät aus Deutschland. Militärexperte Carlo Masala erklärt im Gespräch mit dieser Redaktion, was der Angriff bedeutet und welche Folgen er für den Verlauf des Krieges haben könnte.

Die Ukraine hat einen Überraschungsangriff auf Russland gestartet. Was weiß man darüber?

Carlo Masala: Die Ukrainer sind weit in russisches Territorium vorgedrungen, sie halten die Gebiete derzeit. Sie haben zahlreiche Kriegsgefangene festgenommen. Sie waren in der Lage, ein oder zwei Kampfhubschrauber der Russen, die zur Verteidigung kamen, abzuschießen.

Was bezweckt die Ukraine mit dieser Offensive?

Masala: Das ist noch relativ unklar. Es gibt drei Interpretationen. Das Erste ist: Sie wollten möglicherweise einem bevorstehenden russischen Angriff zuvorkommen und russische Kräfte binden. Die zweite Möglichkeit: Sie wollen versuchen, das russische Territorium zu halten, um es im Zuge von Verhandlungen, die es irgendwann geben wird, gegen ukrainisches Gebiet zu tauschen. Das Dritte wäre eine politische Interpretation. Möglicherweise wollte die Ukraine zeigen, dass sie gar nicht schwach ist, dass sie militärisch sehr viel kann, aber letztlich daran gehindert wird, es zu tun.

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    Der Angriff auf russisches Staatsgebiet als politisches Signal?

    Masala: Ja, man kann diese Operation auch als eine politische begreifen. Wir reden mit Blick auf die Donbass-Situation von ukrainischen Truppen, die sich zurückziehen, wir reden von Munitions- und Personalmangel. Diese Operation zeigt aber: Die Ukrainer können was, wenn ihnen keine Fesseln angelegt werden. Sie zeigen, dass sie nicht schwach sind. Sie zeigen, dass sie sehr viel mehr könnten, wenn sie denn dürften. Das ist klug. Ob das allerdings in Washington und Berlin verstanden wird, dass man die Ukraine von ihren Fesseln befreien müsste, damit sie sich erfolgreich verteidigen kann, ist eine andere Frage.

    Von welchen Fesseln sprechen Sie?

    Masala: Kein russisches Territorium anzugreifen, keine Waffen westlicher Art einzusetzen, um auf russischem Gebiet Operationen durchzuführen.

    Dagegen hat die Ukraine doch jetzt verstoßen. Sie sind auf russisches Territorium vorgedrungen und haben offenbar westliche Waffen eingesetzt.

    Masala: Ja, der Einsatz des deutschen Marder und des amerikanischen Stryker bei dieser Operation gilt als relativ gesichert. Aber es gibt darauf kaum Reaktionen. Die Amerikaner sagen, sie seien nicht informiert gewesen, die Deutschen haben sich öffentlich gar nicht geäußert. Ich glaube, da kommt auch nichts mehr.

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    Muss man befürchten, dass die Ukraine auch andere Vereinbarungen nicht einhält, wenn jetzt schon deutsche Marder in Russland sind?

    Masala: Das glaube ich nicht. Das wäre der Fall gewesen, wenn sie die Atacms, die amerikanische Kurzstreckenrakete, oder die F-16-Kampfflugzeuge eingesetzt hätten, also Kriegsgerät, das mit einem klaren politischen Veto belegt ist. Das haben sie aber nicht getan.

    Es ist also eine unterschwellige Überreizung.

    Masala: Ja, so kann man es sagen.

    Carlo Masala

    Er ist einer der bekanntesten Militärexperten in Deutschland. Masala (Jahrgang 1968) lehrt Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Er beantwortet unserer Redaktion jede Woche die wichtigsten Fragen rund um den Konflikt in der Ukraine.

    Was sagt der Angriff über Russland aus?

    Masala: Der Angriff zeigt, wie schwach Russland auf seinem eigenen Territorium aufgestellt ist. Diese russischen Defizite sehen wir schon die ganze Zeit: beim Prigoschin-Putsch oder auch bei den islamistischen Anschlägen. Russland ist nicht in der Lage, schnell operative Reserven heranzuholen, um das eigene Territorium zu verteidigen.

    Ziehen die Russen zur Grenzsicherung jetzt Truppen woanders ab?

    Masala: Das ist noch nicht zu erkennen. Es ist aber möglich, dass einige aus dem Donbass wieder zurückverlegt werden.

    Wie wird der russische Präsident Putin auf den Angriff reagieren? Macht das diesen Krieg noch gefährlicher?

    Masala: Putin wird versuchen, mit konventionellen Mitteln den Angriff zurückzuschlagen. Ich kann keine Eskalationsgefahr erkennen, schon gar nicht nuklear, wenn Sie darauf anspielen. Es gibt nach der Sitzung bei Putin nicht einmal entsprechende Drohungen. Aber etwas anderes wird deutlich: Wir waren in diesem Krieg schon oft an einem Punkt, wo es hieß – jetzt könnte Russland den Krieg eskalieren lassen. Doch das ganze Gerede von der Eskalationsgefahr relativiert sich immer wieder.

    Russlands Präsident Wladimir Putin ließ sich von seinen Ministern und Sicherheitsberatern über die Lage in Kursk informieren. Bis zu zehn Kilometer weit ist die Ukraine auf russisches Territorium vorgedrungen.
    Russlands Präsident Wladimir Putin ließ sich von seinen Ministern und Sicherheitsberatern über die Lage in Kursk informieren. Bis zu zehn Kilometer weit ist die Ukraine auf russisches Territorium vorgedrungen. © AFP | Valery Sharifulin

    Ein kurzer Blick auf einen anderen Krisenherd. Alle warten auf den Angriff des Iran. Warum lässt sich Teheran so viel Zeit?

    Masala: Derartige Angriffe müssen vorbereitet werden. Es ist eine kindische Vorstellung, dass etwas passiert und dann sofort reagiert wird. Die Iraner kündigen an, dass die Vergeltung größer ausfällt als im April. Sie versuchen gleichzeitig, die Solidarität islamischer Länder in der Region zu bekommen, wie das Treffen am Mittwoch zeigt. Zudem wollen sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite haben und sich vorbereiten, auf eine mögliche israelische Gegenreaktion.

    Besteht die Gefahr, dass die USA in den Krieg hineingezogen werden?

    Masala: Ich sehe das nicht. Die Amerikaner haben klar gesagt, sie helfen Israel bei der Abwehr dessen, was da kommt. Aber sie werden sich im Vorwahlkampf nicht aktiv in Kriegshandlungen hereinziehen lassen.