Düsseldorf. Von Beginn an umstritten: Die Kammer soll das Pflegepersonal vertreten. Nun erhebt die Gewerkschaft Verdi schwere Vorwürfe gegen sie.

Zwei Jahre nach ihrem Start ist die Pflegekammer NRW weiter umstritten. In dieser Woche erhebt die Gewerkschaft Verdi schwere Vorwürfe gegen die Kammer, spricht sogar von „fraglichem Umgang mit Steuergeldern“. Über der Pflegekammer schweben von Beginn an zwei Fragen: Brauchen die Pflegerinnen und Pfleger in NRW eine solche Berufsvertretung? Und ist es in Ordnung, sie zur Mitgliedschaft zu verpflichten?

Ärzte haben eine Ärztekammer. Brauchen Pflegende auch eine Pflegekammer?

Als NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) am Donnerstag in Berlin über den Stand der Krankenhausreform in NRW informierte, war Sandra Postel mit dabei. Die Präsidentin der Pflegekammer NRW saß neben Hans-Albert Gehle, dem Chef der Ärztekammer Westfalen-Lippe, und erklärte, warum es wichtig sei, bei der Klinikreform auch auf die Pflegenden zu hören: „Parallel zu dieser Reform wurde die Pflegekammer NRW gegründet, nicht zuletzt auch, um einen berufsrechtlich legitimierten Partner in diesem Kontext zu schaffen.“

Sandra Postel, selbst gelernte Pflegefachkraft, ist Vorsitzende der Pflegekammer NRW. Als die Landesregierung am Donnerstag in Berlin über die Krankenhausreform informierte, saß sie auf dem Podium.
Sandra Postel, selbst gelernte Pflegefachkraft, ist Vorsitzende der Pflegekammer NRW. Als die Landesregierung am Donnerstag in Berlin über die Krankenhausreform informierte, saß sie auf dem Podium. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Ärzte haben eine Ärztekammer, Handwerker eine Handwerkskammer. Das sind Organisationen, die selbstständig einen Berufsstand repräsentieren und dessen Interessen möglichst unabhängig vom Staat vertreten. Als Karl-Josef Laumann 2019 in NRW die Gründung einer Pflegekammer anstieß, sagte er: „Die Pflege braucht eine eigene Stimme.“ Diese Stimme haben die rund 228.000 Frauen und Männer, die in NRW in Pflegeberufen arbeiten, jetzt. Aber auch der Chor der Kammer-Kritiker ist -- nicht nur in NRW -- vielstimmig.

Teure PR-Agentur verpflichtet: Geldverschwendung oder wichtige Hilfe für Ehrenamtliche?

Verdi NRW spricht in dieser Woche von „Missständen“ in der Pflegekammer, wirft ihr zum Beispiel „fraglichen Umgang mit Steuergeldern“ vor. Hintergrund ist die Zusammenarbeit der Kammer mit einer Hamburger PR-Agentur, obwohl die Kammer schon eine Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit hat. Der Vertrag soll schon Wochen vor dem Haushaltsplan für 2024 unterschrieben worden sein. Bis zu 686.000 Euro winkten der Marketingagentur, heißt es. So verschwenderisch und intransparent dürfe man nicht mit öffentlichem Geld umgehen, findet die Gewerkschaft.

Die Pflegekammer entgegnet, sie habe die PR-Agentur in einem jederzeit transparenten Verfahren nach einer europaweiten, öffentlichen Ausschreibung gefunden. Der Vertrag, in den zahlreiche Bedingungen für die Agentur eingearbeitet worden seien, laufe zunächst über zwei Jahre und könne zweimal um ein Jahr verlängert werden. Nur in diesem maimalen Verlängerungs-Fall gehe es um die genannte Summe.

Zweifel am Sinn der teuren Verpflichtung von PR-Profis will die Kammer nicht aufkommen lassen. Ihr Vorstand und die Kammerversammlung bestehe aus Ehrenamtlichen, die im Hauptberuf in der Pflege arbeiteten. Ohne Hilfe von außen sei es unmöglich, die „Verpflichtung zur Außenkommunikation“ zu bewältigen.

Pflegekammern gerieten bundesweit unter Druck. Nur zwei blieben übrig

Kammer-Präsidentin Postel hat außerdem die Gewerkschaft mit einer kritischen Aussage über die gescheiterte Pflegekammergründung in Baden-Württemberg gegen sich aufgebracht. Die Kritik wurde zwar schnell wieder aus den sozialen Medien entfernt, dennoch beharrt Verdi darauf, die Kammer-Chefin habe sich nicht in politische Vorgänge einmischen dürfen.

Ein Knackpunkt, der immer wieder genannt wird, ist die Pflicht-Mitgliedschaft. Wenn die „Anschub-Finanzierung“ über knapp 32 Millionen Euro, die NRW der Kammer bis 2027 zur Verfügung stellt, endet, muss sich die „Stimme der Pflegenden“ selbst finanzieren, also über Mitgliedsbeiträge. Diese Rechnung geht allerdings nur auf, wenn alle, die beruflich pflegen, einzahlen.

Pflicht-Mitgliedsbeiträge sind vielen ein Dorn im Auge

Viele Menschen in den Pflegeberufen wehren sich gegen diese Pflichtbeiträge. Nicht nur, aber auch an der Beitragsfrage sind schon mehrere Versuche, in Ländern Pflegekammern zu errichten, gescheitert, zuletzt in Baden-Württemberg. Dort wurden bei einer Umfrage unter den rund 120.000 Pflegefachkräften etwa 53.000 Einwände gegen die Kammer gezählt -- zu viele, um sich auf das Experiment Pflegekammer einzulassen. Das nötige „Quorum“ zur Kammer-Errichtung wurde verfehlt.

Sonderfall Bayern

In Bayern gibt es ein alternatives Pflegekammer-Modell, die „Vereinigung der Pflegenden in Bayern“, auch „Pflegering“ genannt. Wesentlicher Unterschied: die Mitgliedschaft ist freiwillig, dafür gibt es eine staatliche Grundfinanzierung. Damit entfällt zwar der Streit über Mitgliedsbeiträge, von einer Unabhängigkeit vom Freistaat kann aber aufgrund der finanziellen Unterstützung nicht die Rede sein.

Auch in Niedersachsen und in Schleswig-Holstein fiel das Projekt Pflegekammer in Umfragen durch. Derzeit gibt es nur in NRW und in Rheinland-Pfalz Pflegekammern. Verdi NRW fordert angesichts der kritischen Haltung vieler Pflegender in den anderen Ländern nun auch in NRW eine „echte demokratische Abstimmung“ über diese Institution.

Online-Petiton läuft, Forderung nach Umfrage liegt auf dem Tisch

Die Gründung der Pflegekammer in NRW fußt auf einer „repräsentativen Umfrage“ im Jahr 2018. Damals wurden allerdings nur 1500 Pflegerinnen und Pfleger befragt. Ob die Kammer heute eine Umfrage unter allen beruflich Pflegenden überstehen würde, ist offen. Verdi hat Ende Juni eine Online-Petition für eine Urabstimmung „zur Rückabwicklung der Pflegekammer NRW“ gestartet, an der sich bisher rund 11.400 Menschen beteiligt haben.

Die Pflegekammer NRW selbst ist davon überzeugt, dass Pflegerinnen und Pfleger mit ihr viel mehr Unterstützung und Sicherheit hätten als vorher. Sie erarbeite erstmals eine Berufsordnung für Pflegende, habe Standards für die Weiterbildung festgelegt, schütze Pflegende vor Diskriminierung und Menschen, die gepflegt werden, vor „unsachgemäßer Pflege“. Außerdem helfe die Kammer bei der leichteren Anerkennung von ausländischen Fachkräften, um den Personalmangel in der Branche zu lindern.

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