Düsseldorf. Die Kritik aus der Ruhr-SPD, Berlin vernachlässige das Revier, zieht neue Kreise. Jetzt mischt sich Dennis Radtke (CDU) ein.

Kümmert sich die Bundesregierung zu viel um Ostdeutschland und zu wenig um das Ruhrgebiet? Der SPD-Bundestagsabgeordnete Markus Töns aus Gelsenkirchen wirft dies Bundesinnen- und Heimatministerin Nancy Faeser in einem Brandbrief vor – die WAZ berichtete. Der Bochumer Europapolitiker Dennis Radtke (CDU) kann Töns‘ Ärger im Gespräch mit Matthias Korfmann nachvollziehen. eimatministerin

Herr Radtke, der SPD-Bundestagsabgeordnete Markus Töns meint, der Bund benachteilige das Ruhrgebiet. Hat er Recht?

Dennis Radtke: Ich habe schon den Eindruck, dass das Ruhrgebiet seit einigen Jahren keine Lobby mehr hat in Berlin. Früher gab es zum Beispiel aus meiner Partei mit Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert und Ex CDU Ruhr-Chef Oliver Wittke starke Akteure für das Revier in Berlin, das wird auch in der SPD keiner bestreiten.

Woran machen Sie die Benachteiligung fest?

Dennis Radtke: Da muss man über viele Dinge sprechen. Was ist zum Beispiel mit der vom Bund versprochenen Instandsetzung der Wasserstraßen? Für den Dortmunder Hafen und den Chemiepark Marl ist das sehr wichtig. Und schauen wir uns eine Stadt wie Gelsenkirchen an mit 25 Prozent SGB II-Leistungsbeziehern. Wie soll man denn ohne Hilfe von außen aus dieser Misere rauskommen als Kommune?

Dazu kommen Probleme mit der Migration aus Südosteuropa. Die Kommunen brauchen hier dringend Unterstützung. Wo sollen die Revierstädte das Personal hernehmen, um jene Zugewanderten zu identifizieren und abzuschieben, die sich Kindergeld mit vermeintlicher Selbstständigkeit erschleichen oder um die Schwarzarbeit zu bekämpfen? Hier haben sich über Jahre Probleme angestaut.

„Wir brauchen eine Re-Industrialisierungsstrategie, die in Brüssel und Berlin angestoßen werden müsste“, sagt Dennis Radtke (CDU).
„Wir brauchen eine Re-Industrialisierungsstrategie, die in Brüssel und Berlin angestoßen werden müsste“, sagt Dennis Radtke (CDU). © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Beim Thema Zuwanderung aus Südosteuropa sollte sich der Blick aber genauso nach Brüssel richten wie nach Berlin. Die Arbeitnehmer-Freizügigkeit ist eine Erfindung der EU, oder?

Dennis Radtke: Die EU ist hier nicht das Problem. Laut EU-Recht kann man jemanden, der nicht innerhalb von drei Monaten nachweisen kann, dass er sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist oder mit selbstständiger Arbeit sich und seine Familie ernähren kann, innerhalb von drei Monaten abschieben. Aber die Revierstädte benötigen Unterstützung, um dieses EU-Recht durchsetzen zu können.

Welche Motive könnte der Bund haben, sich mehr für Ostdeutschland zu interessieren als für den „tiefen Westen“?

Dennis Radtke: Ich weiß nicht, ob es da eine klare Motivlage gibt. Vielleicht geht es darum, etwas gegen die AfD zu unternehmen. Aber das Problem mit der AfD ist inzwischen in Teilen des Ruhrgebietes annähernd so virulent wie in Ostdeutschland. In Gelsenkirchen hat bei der Europawahl nicht viel gefehlt, und die AfD wäre stärkste Partei geworden.

Wenn Sie durch Ostdeutschland reisen: Was fällt Ihnen dort im Vergleich zum Ruhrgebiet auf?

Dennis Radtke: Die Problemlagen sind unterschiedlich. Vielerorts im Osten gibt es in der Fläche kaum noch Arztpraxen, Tankstellen und Supermärkte. Das ist im Ruhrgebiet natürlich anders.

Was müsste geschehen, um das Revier zu stärken?

Dennis Radtke: Wir brauchen eine Re-Industrialisierungsstrategie, die in Brüssel und Berlin angestoßen werden müsste. Unsere Stärke im Ruhrgebiet war früher, dass hier in der Industrie auch Menschen mit formal schlechterer Bildung Perspektiven hatten. Wir müssen in einem ersten Schritt alles dafür tun, dass wir jene industriellen Kerne, die wir haben, also vor allem Stahl, Chemie und Aluminium, auch behalten. Wenn wir nicht aufpassen, sind die in zehn Jahren weg, und dann brauchen wir auch nicht mehr über die Wasserstoffindustrie reden.

„Soziales Gesicht“ der Union

Der Europaabgeordnete Dennis Radtke (45) hat beste Aussichten, im September das neue Gesicht des Sozialflügels in der Union zu werden. Der gelernte Industriekaufmann und Gewerkschaftssekretär aus Bochum-Wattenscheid wurde im Juni vom NRW-Landesvorstand der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) einstimmig für die Wahl zum CDA-Bundesvorsitzenden und damit für die Nachfolge von Karl-Josef Laumann nominiert. Radtke gilt als Verfechter einer breiten thematischen Aufstellung der Merz-CDU und Kritiker eines betont konservativen und wirtschaftsliberalen Kurses

Die Ruhrkonferenz der NRW-Landesregierung scheint das Revier auch nicht entscheidend vorangebracht zu haben, oder sehen Sie das anders?

Dennis Radtke: Die Ruhrkonferenz war wichtig für die Region. Aber jetzt geht es darum, nach vorne zu schauen und das Rad weiter zu drehen. Da sehe ich auch den Regionalverband Ruhr (RVR) in der Pflicht. Der hat mit dem früheren NRW-Wirtschaftsminister Garrelt Duin (SPD) jetzt einen richtigen Politiker an der Spitze, und von dem erwarte ich, dass er das Rad weiterdreht.

Was könnte der RVR leisten?

Dennis Radtke: Er kann, wenn er will, viel mehr aus seiner Rolle herausholen. Es wird schon lange darüber geredet, ob der RVR ein eigenes Büro in Brüssel eröffnen sollte Ich befürworte das vehement, denn ein solches Büro könnte viel besser in den Blick nehmen, welche EU-Förderungen für das Ruhrgebiet in Frage kommen. Der RVR könnte in Brüssel wichtige Lobbyarbeit für unsere Region leisten und dabei ein sehr glaubwürdiger Player sein.

Garrelt Duin hat auf die Frage, ob das Ruhrgebiet von Berlin benachteiligt werde, gesagt, das Ruhrgebiet agiere aus einer Position der Stärke, habe eine hoch kompetente Forschungslandschaft und brauche keine Wohltaten einer Bundesministerin. Einverstanden?

Dennis Radtke: Überhaupt nicht. Natürlich haben wir eine starke Wissenschaftslandschaft, aber die Frage ist, was wir daraus machen. Wir haben wenig davon, wenn wir hier talentierte junge Menschen an unseren guten Hochschulen ausbilden, die am Ende dann aber nach München, Hamburg, Berlin oder Stuttgart gehen.

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