Gelsenkirchen. Der Bund will Behörden bevorzugt in Ostdeutschland ansiedeln. Dem SPD-Bundestagsabgeordneten Markus Töns platzt daher jetzt der Kragen.
Die Bundesregierung sieht sich nach ihrer Entscheidung, Bundesbehörden und Bundesforschungseinrichtungen künftig bevorzugt in Ostdeutschland anzusiedeln, mit massiver Kritik aus dem Ruhrgebiet konfrontiert.
„Ich bin verwundert und enttäuscht“, schreibt der SPD-Bundestagsabgeordnete Markus Töns in einem Brandbrief an Bundesinnenministerin Nancy Faeser (ebenfalls SPD), der dieser Redaktion exklusiv vorliegt. Der Abgeordnete wirft Faeser und dem Bundeskabinett vor, „nur in den Osten“ zu blicken. Es heißt, die anderen Revier-Abgeordneten teilten diese Kritik.
Vergoldete Radwege im Osten -- verhinderte Radwege im Westen?
„Trügt der Schluss, oder werden hier erneut nur Konzepte gezielt für den Osten erarbeitet, und die Situation im Ruhrgebiet konsequent ignoriert?“, fragt Töns die „eigene“ Innenministerin. Es entstehe der Eindruck, dass die Revierstädte von diversen Bundesregierungen schon seit Langem benachteiligt würden. Dabei hätten sie Hilfe mindestens so nötig wie Kommunen im Osten. „Während die Städte in Ostdeutschland die Ränder ihrer Radwege inzwischen vergolden, müssen sich die Revierstädte strecken, um überhaupt Radwege bauen zu können“, sagte Töns dieser Redaktion.
Ende Juni hatte das Bundeskabinett ein „Konzept zur Ansiedlung von Bundes- und Forschungseinrichtungen“ beschlossen. Darin geht vor allem um die Stärkung früherer Kohlereviere. Das frühere Steinkohlerevier Ruhrgebiet hat von dieser Initiative aber offenbar nichts. Denn von ihr sollen vor allem Städte zwischen 5.000 und 100.000 Einwohnern profitieren. Essen, Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen und andere große Ruhrgebietsstädte dürften leer ausgehen.
Der Ostbeauftragte der Ampel, Carsten Schneider, lobt das Konzept in höchsten Tönen
Den Verdacht, es gehe Berlin in erster Linie nur um Hilfe für den Osten, nähren sowohl Äußerungen der Bundesinnenministerin als auch vom „Ostbeauftragten“ der Bundesregierung, Carsten Schneider (SPD). „Wenn Bundes- und Forschungseinrichtungen vorrangig in strukturschwachen Regionen entstehen, trägt das nicht nur dazu bei, das strukturelle Ungleichgewicht zwischen Ost und West abzubauen“, sagte Schneider. „Damit schaffen wir auch gute Arbeitsplätze mit tariflicher Bezahlung und machen so die Region für Rück- und Zuwanderung attraktiv.“
Wie sehr die Förderpolitik der Ampel Entscheider im Ruhrgebiet irritiert, zeigt die Einschätzung des Bochumer Oberbürgermeisters und Chef des Revier-Kommunalrates, Thomas Eiskirch (SPD). Er findet es zwar grundsätzlich gut, dass der Bund strukturschwachen Regionen helfen möchte. Aber: „Die Strategie der Bundesregierung, hier nur Städte von 5000 bis 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner zu fördern, schließt das Ruhrgebiet fast komplett aus. Dies kann vor dem Hintergrund der enormen Herausforderungen unserer Region nur als Affront verstanden werden“, sagte Eiskirch auf Nachfrage. Der Bund müsse dringend nachbessern.
Die kommenden Landtagswahlen im Osten verunsichern auch die Bundespolitik
Viele Parteien schauen angesichts des AfD-Umfragehochs sorgenvoll auf die anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Die Bundesregierung ist in diesen Wochen darum bemüht, ihren im Osten besonders ramponierten Ruf auf den letzten Drücker zu korrigieren. Verliert sie bei ihrem Blick nach Osten die Problemregionen im Westen aus den Augen? Der SPD-Bundestagsabgeordnete Markus Töns aus Gelsenkirchen wirft Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) in einem geharnischten Brief vor, die Situation im Ruhrgebiet zu ignorieren.
„Wir wollen Bundesbehörden und Forschungseinrichtungen noch stärker in strukturschwachen Regionen ansiedeln – und damit vor allem auch kleine und mittlere Städte in Ostdeutschland fördern“, erklärte Nancy Faeser Ende Juni nach einem entsprechenden Kabinettsbeschluss. Markus Töns konfrontiert die „eigene“ Innenministerin nun mit der Frage nach dem Ruhrgebiet. Der 60-Jährige Gelsenkirchener erinnert Faeser daran, dass es auch tief im Westen „strukturschwache Kohlenrückzugsgebiete“ gebe, die Perspektiven benötigten.
Motto: „Go East“
Staatsminister Carsten Schneider (SPD), Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland, zählt Ämter und Einrichtungen auf, die schon in den Osten gegangen sind: „Die Ansiedlung des Bundesamts für Auswärtige Angelegenheiten in Brandenburg an der Havel, die Deutsche Stiftung für Ehrenamt und Engagement in Neustrelitz oder die neue Forschungsagentur für Transfer und Innovation in Erfurt stärken nicht nur die Region, sondern machen Bundespolitik auch jenseits von Berlin sichtbar.“
„Deshalb fordere ich eine deutliche Positionierung der Bundesregierung, die eine Ansiedelung von Bundesbehörden und Forschungseinrichtungen auch den strukturschwachen Regionen im Westen zuspricht“, schreibt Töns in seinem Brandbrief. Der Eindruck, die Ampel ignoriere das Revier, habe sich zuletzt bei den SPD-Bundestagsabgeordneten aus dem Revier verfestigt, erklärt Töns auf Nachfrage. Die jüngste Entwicklung habe „das Fass zum Überlaufen gebracht“. Man müsse den Eindruck haben, es werde eine „Lex Ost“ geschaffen.
Auch für das Ruhrgebiet ist Geld übrig. Alllerdings nicht besonders viel
Dem kann man entgegenhalten, dass Bund und Länder im Zuge des Kohleausstiegs bis zum Jahr 2038 eine Milliarde Euro für die Transformation von Steinkohlekraftwerksstandorten zur Verfügung stellen möchten. Davon sind rund 600 Millionen Euro für das Ruhrgebiet gedacht. Das sei zwar so, aber die Relation stimme nicht, behauptet Töns. Insgesamt lasse sich der Staat den Kohleausstieg 40 Milliarden Euro kosten. Das Ruhrgebiet bekomme nur ein winziges Stück vom großen Kuchen ab. Viele in Ruhrgebiet dürften es ähnlich empfinden. Wenn in den vergangenen Jahren über den Kohleausstieg in Nordrhein-Westfalen geredet wurde, ging es fast immer nur um das Rheinische Braunkohlerevier.
NRW-Ministerin Scharrenbach: „Tief im Westen, wo die Bundesregierung nicht hinschaut“
NRW-Kommunalministerin Ina Scharrenbach (CDU) hat Verständnis für die Kritik an der Ostförderung der Ampel: „Tief im Westen, wo die Bundesregierung nicht hinschaut‘ könnte man aus dem Ruhrgebiet der Bundesregierung entgegenrufen. Denn das Konzept der Bundesregierung zur Ansiedlung oder Erweiterung von Bundes- und Forschungseinrichtungen legt seinen Fokus verstärkt auf die gegenüberliegende Landeshälfte“, sagte die Ministerin, die in Kamen lebt und sich in der CDU Ruhr engagiert, dieser Redaktion. Die Bundesregierung möge daher ihr Konzept überprüfen und „neben dem Rheinischen Revier noch das Ruhrgebiet aufnehmen“.
Scharrenbach hatte schon vor zwei Jahren im Gespräch mit dieser Zeitung in einem anderen Zusammenhang eine Neuauflage des Nach-Wende-Programms „Stadtumbau Ost“ gefordert, diesmal aber mit Blickrichtung Westen. „Der Osten hatten damals große Probleme mit seinen Plattenbauten. Heute brauchen wir einen ,Stadtumbau West‘“, sagte sie damals. Das Ruhrgebiet würde davon enorm profitieren können.
RVR-Direktor Garrelt Duin (SPD) meint, das Revier sei stark genug
Gelassener als die SPD-Bundestagsabgeordneten schaut der Direktor des Regionalverbandes Ruhr, Garrelt Duin (SPD), auf den Streit. „Das Ruhrgebiet agiert aus der Position der Stärke. Es verfügt zum Beispiel über eine gewachsene, hoch kompetente Forschungs- und Wissenschaftslandschaft. Da sind Vergleiche mit der Entwicklung im Osten nicht angebracht“, meint der frühere NRW-Wirtschaftsminister. „Im Ruhrgebiet setzen wir auf Innovation, unternehmerische Kompetenz und fleißige Beschäftigte, statt auf Wohltaten der Bundesministerin zu warten.“ Wenn der Bund es ernst meine mit dem Bürokratieabbau, sollte er überhaupt keine neuen Behörden schaffen, weder im Osten noch im Westen, fügt Duin hinzu.
Töns lässt sich nicht beirren: „Jetzt ist der Punkt erreicht, an dem man laut werden muss“
Markus Töns legt sich dennoch mit der Bundesregierung an. „Ich habe das Gefühl, wir sind zu leise“, sagt er. „Wir im Ruhrgebiet sind solidarisch. Auch beim ,Aufbau Ost‘ waren wir ohne Gejammer über 30 Jahre lang solidarisch. Jetzt ist der Punkt erreicht, an dem man mal laut werden muss.“