Berlin. Joe Biden gibt sich trotzig, doch die Skepsis reißt nicht ab. Ein Geriatrie-Experte erläutert, woran man Bidens Zustand erkennen kann.

  • Um die körperliche und geistige Fitness von Joe Biden gibt es eine Debatte
  • Biden ist 81 Jahre alt
  • Als Spitzenpolitiker ist man viel Stress und Input ausgesetzt
  • Ein Altersmediziner sagt, wie ein älterer Körper damit umgeht

Die Debatte um Joe Bidens körperliche und geistige Fitness reißt nicht ab. Zuletzt hat der US-Präsident mit Trotz darauf reagiert. Doch auch in Deutschland beobachten Experten die Auftritte des 81-Jährigen mit Skepsis. Ulrich Thiem, Geriatrie-Experte aus Hamburg, sagt im Gespräch mit dieser Redaktion, was er Biden raten würde.

Herr Thiem, Joe Biden ist jetzt 81 Jahre alt. Wie hat er bei seinen letzten Auftritten auf Sie als Altersmediziner gewirkt?

Ulrich Thiem: Er wirkt tatsächlich schon wie ein geriatrischer Patient, also wie ein Mensch mit deutlichen funktionellen Einschränkungen. Biden scheint ein Problem mit seinem Gedächtnis zu haben. Aber auch seine Motorik scheint nachzulassen. Schon als er damals gewählt wurde, war seine körperliche Fitness ein Thema. Deswegen sollen seine Berater ihm auferlegt haben, bei Wahlkampfauftritten immer so eine kleine Joggingeinheit zum Rednerpult hinzulegen, damit er energischer wirkt.

Und das überzeugt nicht mehr?

Es mehren sich die Ereignisse, bei denen man als Beobachter denkt: Das ist mehr als das übliche Maß an Zerstreutheit und Anstrengung. Käme er zu mir, würde ich sagen: Das geht über die typischen altersbedingten Veränderungen hinaus. Vor vier, fünf Jahren kam er noch anders rüber.

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Bitte konkret: Woran erkennen Sie seine nachlassenden körperlichen und geistigen Fähigkeiten?

Natürlich muss man da vorsichtig sein, weil man nur die Bilder aus den Medien mitverfolgen kann. Doch wenn ich mir sein Gangbild anschaue, finde ich, dass er in den letzten Jahren unsicherer geworden ist. Hinzu kommt, dass er oftmals wie abwesend wirkt, Sachzusammenhänge durcheinanderbringt und Namen verwechselt. An so etwas mache ich als Geriater fest, dass er möglicherweise durch sein Alter eingeschränkt ist.

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Mit dem Joggen zum Pult hat es beim TV-Duell nicht so richtig geklappt – da hat Biden eher Trippelschritte gemacht…

Wir alle haben eine selbstgewählte Gehgeschwindigkeit und ein quasi selbstgewähltes Gangbild. Manche Experten in der Ganganalyse sagen, dass die Art, wie wir gehen und welche Schrittlänge wir haben, ähnlich individuell ist wie ein Fingerabdruck. Wer anfängt, seine typische Schrittlänge zu reduzieren, verringert damit die Standzeit auf nur einem Bein, weil er sich unsicher fühlt. Es könnte aber auch sein, dass eine neurologische Erkrankung vorliegt…

Ärzte sollen Biden eine Nervenkrankheit in den Füßen attestiert haben...

Ja, die Polyneuropathie, eine Gefühllosigkeit in den Beinen. Das hat mit dem zentralen Nervensystem nichts zu tun, sondern mit den Leitungsbahnen, die nach unten führen und unsere Sensibilität in Händen und Füßen ermöglichen. Auch Parkinson führt typischerweise zu motorischen Einschränkungen. Dabei spielen auch diese Trippelschritte eine Rolle.

Über eine mögliche Parkinson-Erkrankung Bidens gibt es Gerüchte, aber das Weiße Haus dementiert...

Ich glaube nicht, dass Biden eine Parkinson-Erkrankung hat. Es gibt aber viele neurologische Störungen aus dem erweiterten Kreis des Parkinson-Spektrums, die etwa durch Durchblutungsstörungen zustande kommen.

Biden wird zitiert mit den Worten, er wolle lieber auf Abendtermine nach 20 Uhr verzichten. Kann man sagen, dass älteren Menschen die Konzentration am Abend generell schwerer fällt?

Ich vermute, dass er damit eher versucht, die Zeitspanne seines Tages insgesamt zu verkürzen, in der er durch öffentliche Auftritte so gefordert ist. Politiker haben einen fremdbestimmten und durchgetakteten Tagesablauf, der mit Briefings schon weit vor unserer normalen Arbeitszeit beginnt. Wenn Sie Pech haben, müssen Sie bis spät abends durchhalten und aufmerksam sein – und danach sofort abschalten und gut schlafen. Am nächsten Morgen geht es direkt weiter! Die Dauer der Beanspruchung ist enorm.  

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    Wie viel Schlaf brauchen Menschen über 80 im Schnitt, um ausgeruht zu sein?

    Das ist sehr individuell. Im Alter verkürzt sich die Schlafdauer grundsätzlich eher. Der Schlaf verändert sich. Es hängt aber auch damit zusammen, welche Gewohnheiten man pflegt und wie gut man schläft. Viele ältere Menschen haben Ein- und Durchschlafprobleme. Sie haben dann vielleicht eine lange Bettzeit, sind aber am nächsten Morgen trotzdem nicht ausgeruht. Viele greifen dann zu wenig heilsamen Schlafmitteln, die das Problem eher verschärfen können.

    Im normalen Erwachsenenalter sollten Menschen sieben bis acht Stunden in der Nacht schlafen. Welche Empfehlung gilt für Ältere?

    Ich weiß nicht, ob es da eine generelle Empfehlung gibt. Es gibt allerdings einen Zusammenhang zur Demenzentstehung: Wer regelmäßig weniger als sieben Stunden schläft und immer zu unterschiedlichen Zeiten, steigert sein Risiko, an Demenz zu erkranken. So etwas braucht Jahre, bis es entsteht. Wenn man dem vorgreifen will, sollte man seinen Alkoholkonsum unter die Lupe nehmen, den Blutdruck kontrollieren, aber auch möglichst seine Bildschirmzeit vor Fernseher und Handy reduzieren, nicht zu spät essen und regelmäßig ins Bett gehen.

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    Ein US-Präsident hat viele Baustellen, im In- und Ausland. Das sorgt für Stress im Körper. Wie wirkt sich das bei älteren Menschen aus?

    Das ist grundsätzlich nicht viel anders, als etwas jüngere Erwachsene es auch erleben. Da werden Stresshormone ausgeschüttet, etwa in unerwarteten Situationen. Bei Politikern oder Menschen mit großer Verantwortung kann es aber auch eine erhöhte Grundspannung geben. Das hat mit den üblichen Alltagsfähigkeiten nichts zu tun, im Gegenteil. Dabei handelt es sich um eine Reaktion des Körpers, die die Natur für uns erfunden hat, damit wir überlebensfähig sind: Ein höheres Stressniveau, ein höherer Pulsschlag, der Blutdruck geht hoch. Im Alltag macht uns das reaktionsfähig. Es erlaubt uns, dass wir uns an unsere Umgebung anpassen. Also erstmal nichts Nachteiliges.

    Das klingt nach einem Aber…

    Wer ständig unter Strom steht, leidet im Schnitt häufiger an Bluthochdruck und hat ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das hat nicht zwingend etwas mit dem Alter zu tun. Nur: Wer in besserer körperlicher Verfassung ist, steckt den Dauerstress über weite Strecken besser weg. Wer also Ausdauersport macht, regeneriert seine körperlichen Fähigkeiten besser und schläft vielleicht auch besser. Politiker haben einen Terminkalender, der so etwas nicht immer zulässt – variable Termine, unregelmäßige Essenszeiten, viel Schreibtischarbeit… Ältere Menschen sind da empfänglicher für Störungen, weil die körperlichen Reserven, die man hat, nicht mehr so groß sind.

    Das Amt des US-Präsidenten geht einher mit sehr viel Input. Kann man das mit 81 alles noch adäquat verarbeiten?

    In der Tat haben ältere Menschen tagesaktuelle Dinge nicht so gut im Gedächtnis. Was man ihnen aber zubilligen muss, ist die sogenannte Altersweisheit. Sie profitieren enorm von einem Erfahrungswissen, das es ihnen erlaubt, Dinge gut einzuschätzen. Auch an Erlebnisse, die länger zurückliegen, können sie sich oftmals gut erinnern. Deshalb kann man nicht sagen, dass ein älterer Mensch mit kognitiven Herausforderungen schlechter umgehen kann. Hinzu kommt: Dafür hat jeder US-Präsident einen Beraterstab und Mitarbeiter, die ihm Informationen überreichen.

    Das macht Joe Biden aber gerade in der jetzigen Debatte auch sehr angreifbar – manche Leute aus dem rechten Spektrum stellen ihn als Marionette dar, die von Beratern gesteuert werde.

    Niemand von diesen Leuten kann ernsthaft behaupten, dass einer das alles allein leisten kann. Auch Donald Trump kann das nicht. Wenn Sie mich als Wähler fragen würden, ob ich lieber jemanden hätte, der sich auf Gremien und Fachberater verlässt und dies in seine politischen Entscheidungen mit einbezieht, oder jemanden, der sich hinstellt und sagt, er könne das alles allein, dann wähle ich die erste Option. Alles andere ist nicht glaubwürdig. 

    Joe Biden bei einer Wahlkampfveranstaltung in Madison (US-Bundesstaat Wisconsin).
    Joe Biden bei einer Wahlkampfveranstaltung in Madison (US-Bundesstaat Wisconsin). © AFP | SAUL LOEB

    Wenn Sie Joe Biden einen Rat aus Ihrem Fachbereich geben könnten, welcher wäre das?

    Ein geriatrischer Patient leidet unter verschiedenen Erkrankungen. Wir kümmern uns um den Menschen, der in seinem Tagesablauf und in seinen Alltagsfunktionen eingeschränkt ist, damit er trotz allem seinen Alltag möglichst selbstständig bewältigen kann. Biden wirkt auf mich nicht wie jemand, der seinen Tagesplan nicht mehr allein planen und durchführen kann – trotz gelegentlicher Aussetzer. Die sollte man allerdings weiter im Blick behalten, ebenso wie die motorischen Symptome. Geh- und Krafttraining wäre sicher von Vorteil für ihn. Damit könnten sich auch Stürze verhindern lassen. Es geht darum, mindestens den Ist-Zustand zu erhalten. Da sehe ich für Biden auch gute Chancen. Würde er als 81-Jähriger zu mir in die Klinik kommen, würden wir ihn mit Maßnahmen und Beratung so weit unterstützen können, dass er auch die nächsten Jahre noch wunderbar selbstständig leben kann. Zugleich wäre es zuträglich für seine Gesundheit, wenn er sein Stresslevel reduzieren würde. Aber das ist natürlich für einen US-Präsidenten nicht umsetzbar.