Essen. Der Bochumer Politikwissenschaftler Jörg Bogumil kritisiert im Krisenmanagement den zu starren Blick der Politik auf Rechtssicherheit.

Strategische Fehler, überhastete Beschlüsse, Momente der Hilflosigkeit: Deutschlands Corona-Politik steckt fest. Wie konnte es soweit kommen? Der Bochumer Uni-Professor und Politikwissenschaftler Jörg Bogumil benennt die Schwachpunkte des Krisenmanagements.

Zu Beginn der Pandemie stand Deutschland als Krisenmanager wie ein Klassenprimus da. Inzwischen müssen wir uns mit hinteren Plätzen begnügen und das Vertrauen der Bürger in Politik und Verwaltung bröckelt mehr und mehr. Wie konnte das passieren?

Bogumil: Die Unzufriedenheit ist derzeit schon sehr groß, wenn auch nicht in allen Bereichen der Pandemiebekämpfung. Das größte Problem sind die Versäumnisse der Politik in der Impfstrategie. In der Bevölkerung gibt es längst ein breites Bewusstsein, dass da etwas richtig schlecht gelaufen ist. Man schämt sich ja fast dafür, dass ausgerechnet das so gut organisierte Deutschland es nicht hinbekommt und andere Länder viel weiter sind beim Impfen.

"Unsere Impfstrategie ist einfach nicht flexibel genug"

Wer hat versagt beim Impfchaos?

Nach meiner Beobachtung sind zwei Gründe entscheidend: Am Anfang stand die verfehlte Impf-Einkaufspolitik der EU. Für die Stimmung in Deutschland ist aber auch bedeutsam: Unsere Impfstrategie ist einfach nicht flexibel genug. Was übrigens weit weniger an den Verwaltungsbehörden liegt als an den politischen Entscheidern. Wir sind in der Umsetzung einfach nicht gut, weil die Politiker hier mitunter falsche Entscheidungen fällen.

Wie wirkt sich das auf die politische Stimmung im Superwahljahr aus?

Angelastet wird das Versagen derzeit den Regierungspartien. Das zeigen die Umfragen. Insbesondere die CDU verliert deutlich in der Wählergunst. Dies nützt dann im Moment den Oppositionsparteien. Ob dieser Trend bis zur Bundestagswahl anhält, wird sich zeigen. Das Potenzial dazu ist da, denn die Unzufriedenheit mit dem Corona-Management ist sehr groß. Allerdings ist auch denkbar, dass das jetzige Chaos in der Corona-Politik etwas in Vergessenheit gerät, wenn das Land bis September endlich durchgeimpft ist und wir unser altes Leben wiederhaben.

"Auch ein Zentralstaat ist auf viele Verwaltungsebenen angewiesen"

Gibt es ein Föderalismus-Problem?

Prinzipiell nicht. Natürlich führt es zu Irritationen, wenn einzelne Bundesländer sich nicht an Absprachen halten oder Sonderwege gehen. Aber auch ein Zentralstaat ist ja auf viele Verwaltungsebenen angewiesen, auch dort müssen die beschlossenen Maßnahmen erst einmal umgesetzt werden. Ein Vorteil unseres Systems ist zudem der innerdeutsche Wettbewerb um den besseren Weg. Wenn wir den Föderalismus nicht hätten, könnten wir nicht zeigen, dass Bayern und Bremen beim Impfen viel besser sind als zum Beispiel NRW. Hier werden viel zu viele Impfstoffe immer noch zurückgehalten. Auch die Impf-Termin-Vergabe funktioniert hier wirklich nicht gut.

Inwiefern?

Die Vergabe der Impftermine war in kaum einem Bundesland so ein Desaster wie in NRW. Aus falsch verstandener Rücksichtnahme auf Interessensverbände hat das Land die Organisation der Impftermine den Kassenärztlichen Vereinigungen überlassen, die den massenhaften Ansturm auf die Telefon-Hotlines und Online-Terminsystemen vollkommen unterschätzt haben, weil sie auf diesem Gebiet keine Erfahrung hatten. Entsprechend ist es dann gelaufen. Andere Bundesländer wie etwa Schleswig-Holstein haben sofort professionelle Ticketportale mit der Terminvergabe beauftragt. Dort gab es solche Probleme wie in NRW nicht.

"In den Ministerien arbeiten zu viele Juristen"

Auch im Bund läuft vieles nicht rund.

Ja. Ein typisches Beispiel für schlechte Organisation und falsches Erwartungsmanagement durch die Bundesregierung sind die Novemberhilfen für Unternehmen. Schon der Name weckte falsche Hoffnungen. Im November waren Auszahlungen gar nicht möglich, weil noch keine Software dafür zur Verfügung stand. Das entsprechende Programm wurde erst im Januar installiert. Niemand in der Politik wollte das aber zugeben. Auch das von Finanzminister Olaf Scholz kürzlich ausgegebene Ziel, zehn Millionen Impfdosen pro Woche schon im April zu verimpfen, geht in diese Richtung. Das Pensum wäre selbst dann nicht zu schaffen, wenn alle Hausärzte mitmachten. Viele Politiker denken einfach viel zu wenig an die Umsetzbarkeit ihrer Beschlüsse und Versprechungen.

Woran hakt es bei der Umsetzung konkret?

In den Ministerien arbeiten zu viele Juristen und zu wenig Pragmatiker. Das führt dazu, dass man sich in den Behörden in erster Linie um die Rechtssicherheit von Maßnahmen kümmert und zu wenig um deren Umsetzbarkeit. Wir brauchen aber dringend mehr Pragmatismus. Es darf nicht nur darum gehen, Fehler zu vermeiden.

"Wer schnell vorankommen will beim Impfen und Testen, kann nicht bis ins Letzte alles regeln"

Wie kommen wir aus dem Umsetzungsdilemma heraus?

Man kann die Verfahren ändern, schneller impfen, den Hausärzten genügend Impfdosen zur Verfügung stellen und ihnen keine überbordenden Dokumentationspflichten auferlegen. Wir müssen vom Bürokratismus zum Pragmatismus kommen. Und es ist die Aufgabe der verantwortlichen Politiker, diese Botschaft in ihre jeweiligen Verwaltungsapparate zu senden.

Was heißt das für NRW?

Hier sollte speziell Gesundheitsminister Laumann Akzente in diese Richtung setzen, was er bisher nicht tut, wie man an der schlechten Impfquote in NRW sieht. Sein Ministerium ist Dreh- und Angelpunkt in der Pandemiebekämpfung. Wer schnell vorankommen will beim Impfen und Testen, kann nicht bis ins Letzte alles regeln. Und wir sollten uns auch von dem an sich ehrbaren Ziel vollständiger Impf-Gerechtigkeit verabschieden. Die Bürger werden es verzeihen, wenn beim Hausarzt die Impfreihenfolge nicht um jeden Preis eingehalten wird, aber alle schneller geimpft werden.