Essen. NRW ist „Hotspot“ der deutschen IS-Kämpfer: Die Spur in mehr als der Hälfte aller schweren islamistischen Terror-Verdachtsfälle führt hierher.
Tarik Süleyman S. hat beim Islamischen Staat das Schießen gelernt, glauben die deutschen Ermittler. Er hat nach ihren Recherchen an Kämpfen in Syrien teilgenommen und in mehreren Bild-, Video- und Textbeiträgen zu Gewalttaten gegen „Ungläubige in Deutschland“ aufgerufen. In der letzten Woche, am 18. März, ist er bei seiner Wiedereinreise nach Deutschland auf dem Frankfurter Flughafen festgenommen worden.
Tarik Süleyman S. stammt aus dem Ostwestfälischen. Er ist der bisher letzte gefasste mutmaßliche Djihadist aus Nordrhein-Westfalen, den ein Haftbefehl des Generalbundesanwalts erst einmal in U-Haft bringt. Das bevölkerungsreichste Bundesland liegt nicht nur am nächsten an den jüngsten Terror-Schauplätzen von Paris und jetzt Brüssel. Es ist auch der „Hotspot“ der IS-Kämpfer innerhalb der Bundesrepublik. Das ergibt eine Auswertung der Daten der Bundesanwaltschaft aus den letzten 15 Monaten durch unsere Redaktion.
Generalbundesanwalt klagt 20 "Heilige Krieger" an
Wenn die oberste Anklagebehörde eingreift, geht es um die schwersten Fälle. In ihrem Visier sind Reise-Terroristen wie Tarik Süleyman S., die entweder auf den syrischen Kriegsschauplatz wollen, die Kämpfer dort logistisch unterstützen oder von dort – meist radikalisiert – zurückkehren. Der Täter-Typ also, den jetzt die belgische Polizei sucht.
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In diesen Fällen hat seit Beginn des letzten Jahres in weit mehr als der Hälfte der von Karlsruhe initiierten 33 Haftbefehle, Festnahmen und Anklagen die Spur nach NRW geführt. In der Zeit seit Januar 2015 klagte der Generalbundesanwalt vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf allein 20 „Heilige Krieger“ an. 12 mutmaßlich gewaltbereite Islamisten wurden in diesem Zeitraum an Rhein und Ruhr nach seinen Haftbefehlen gesucht oder festgenommen. Nils D. und der Prediger Sven Lau, Deutsche von der Abstammung her, die sich Organisationen rund um den Islamischen Staat abgeschlossen hatten, gehörten dazu.
Härtere Linie gegen Terror-Vereinigungen
Und: Nicht mehr nur Dinslaken, Aachen und vor allem Bonn sowie Teile des Ruhrgebiets sind die Rückzugsräume der Djihadisten, wie es lange Zeit schien. Festnahmen und Wohnsitze der Angeklagten verteilen sich inzwischen über das ganze Land. Köln und Dortmund sind dabei, der bergische und rheinische Raum bei Düsseldorf und eben Ostwestfalen.
Großeinsatz in Wuppertal
Bei den Anklagen geht es meist um die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat oder um die Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen wie Junud al Sham, was „Die Soldaten Syriens“ heißt, im Kampfverband „Auswanderer aus Aleppo“ oder im IS selbst. Die Linie der Bundesanwaltschaft ist insgesamt härter geworden, um die Bestrafung höher ausfallen zu lassen.
Mordanklagen bleiben schwierig
So versucht sie zunehmend, wegen Kriegsverbrechen und auch wegen Mordes anzuklagen. Das ist in einem der Düsseldorfer Fälle, dem des aus der Nähe von Kleve stammenden Kerim B., gescheitert. Der 22-Jährige habe als Angehöriger einer Kampftruppe des IS „mindestens einen Menschen getötet“, waren die Bundesanwälte sicher. Doch noch akzeptieren die Gerichte Mordanklagen nicht, wenn keine direkten Beweise für die Tat selbst angeführt werden können.
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Gleich sieben Islamisten aus NRW sind Karlsruhe ins Visier geraten, weil sie „kampfbereite Glaubensbrüder bei ihrer Ausreise nach Syrien“ beraten, bei der Finanzierung der Reisekosten behilflich gewesen und die nötigen Kontakte in die Kriegsregion hergestellt haben sollen. Einer der Angeschuldigten, Mirza Tamoor B., habe 15 Kraftfahrzeuge für den IS-Kampf nach Syrien überführt.
Mehrere Bomben waren nicht explodiert
Dass Nordrhein-Westfalen nicht nur Schwerpunkt der Rekrutierung islamistischer Kämpfer ist, sondern auch als möglicher Tatort in Frage kommt, haben in den letzten Jahren mindestens drei gescheiterte Attentate gezeigt – die Mehrzahl der gefährlichen Versuche, die es in Deutschland überhaupt gegeben hat.
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Die Angehörigen der „Düsseldorfer Zelle“ wurden 2011, nachdem sie der US-Geheimdienst NSA enttarnt hatte, zu Lebenslang verurteilt - sie hatten geplant, einen Sprengsatz mit großer Splitterwirkung in einer großen Menschenmenge zu zünden. Die „Kofferbomber“, die in Köln zwei Sprengkörper in den Regionalexpress-Zügen nach Hamm und Koblenz platzierten, büßen in Deutschland und im Libanon ebenfalls mit lebenslänglicher Haft. Die Bomben waren - unter anderem bei Dortmund - nicht explodiert, weil sie fehlerhaft konstruiert waren. Durch ein ähnliches Versagen der Rohrbombe davongekommen sind auch die Menschen am Gleis 1 des Bonner Hauptbahnhofs Ende 2012. Der Prozess gegen den mutmaßlichen islamistischen Marco G. läuft noch.
Zwei bis drei Dutzend kampfbereite Hardliner in Dinslaken
Mehr als 180 junge Menschen, die in die Fänge von IS und anderer Organisationen geraten waren, sind seit dem Jahr 2012 in die Kriegsgebiete von Syrien und Irak ausgereist. 25 von ihnen sind dort umgekommen. 50 sind wieder in Nordrhein-Westfalen zurück. Die 50 stehen unter Beobachtung. Viele von ihnen stammen aus Orten wie Dinslaken-Lohberg, 6000 Einwohner groß, 30 Prozent Arbeitslosigkeit, keine Lehrstellen. 2012 kamen die ersten salafistischen Werber der inzwischen verbotenen Organisation „Millatu Ibrahim“ aus Bonn und München hierher. Sie funktionierten heimlich ein städtisches Heim zum Rekrutierungsbüro um und hatten sogar Erfolg bei einheimischen Deutschen. Am Ende waren zwei bis drei Dutzend kampfbereite Hardliner da. In letzter Zeit, heißt es, ist die Szene hier auseinandergefallen.
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Armut und Drogen, Aussichtslosigkeit und dann das Auftreten radikaler Prediger: Ist das allgemein der gefährliche Mix, in dem sich die islamistische Gewalt in Nordrhein-Westfalen zusammenbraut? Es muss nicht so sein. Weit früher noch als am Niederrhein hat sich der Radikalismus in Bonn breit gemacht. Doch hier, als ein Erbe der früheren Funktion dieser Stadt als Sitz von Regierung und Bundestag, ist die Substanz eine ganz andere.
Verfassungsschutz sieht die Szene sich verteilen
Über viele Jahre schickten nicht nur die Diplomaten, sondern auch andere reiche arabische Familien ihre Kinder auf die Fahd-Akademie des Vorortes Bad Godesberg, in dem viele Straßen heute von arabischen Geschäften dominiert sind. Die Zahl der Moscheen ist nach wie vor größer als im übrigen Land. Zehn Prozent der Bevölkerung von Bonn sind muslimischen Glaubens. Arabisch ist nach Englisch die zweite große Fremdsprache.
Der Verfassungsschutz an Rhein und Ruhr glaubt, dass der Islamismus in Nordrhein-Westfalen gerade wieder in Bewegung ist. Er lockert sich. Er verlässt eher die Schwerpunkte und verteilt sich in Kleingruppen über das ganze Land. Leichter macht das weder Prävention noch Fahndung.