Essen. .
Der „Kniefall von Warschau” des Bundeskanzlers Willy Brandt ist eine der bewegendsten Gesten des 20. Jahrhunderts. Doch nicht alle zollten dem Akt Respekt, der sich am Dienstag zum 40. Mal jährt.
Getrost darf man die frühen 1970er-Jahre den Frühling der Republik nennen. Die dunklen Jahre sind vorbei; Kriegsspuren beseitigt, die Westdeutschen hatten ihr Wirtschaftswunder, Frische zieht durchs Land. Als der Sozialdemokrat Brandt Kanzler wird, will er „mehr Demokratie wagen”. Auch strebt seine sozial-liberale Regierung eine neue Ostpolitik an; Tauwetter im waffenstarrenden Kalten Krieg.
Der 7. Dezember 1970 ist ein hässlicher Vorwintertag in Warschau. Kanzler Brandt ist in Polens Hauptstadt gereist, um einen Vertrag zur Normalisierung der Beziehungen zu unterzeichnen. Ein Schritt auf dem Weg, Kriegswunden zu heilen und den Eisernen Vorhang aufzuweichen.
Bereits im Frühjahr 1970 geschieht Spektakuläres
Bereits im Frühjahr ist Spektakuläres geschehen. Am 19. März hat sich Brandt zu offiziellen Gesprächen mit DDR-Ministerpräsident Willi Stoph in Erfurt getroffen. „Willy, Willy” jubelt eine unüberschaubare Menge vor dem „Erfurter Hof”. Sehnsucht nach Überwindung der Blöcke bricht sich Bahn. Und im August war der unter größter Geheimhaltung vorbereitete „Moskauer Vertrag” im Kreml unterzeichnet worden, in dem sich die einst erbittertsten Kriegsgegner der friedlichen Lösung aller Konflikte verpflichten.
Jetzt ist Brand in Polen, das Hitler-Deutschland als erstes Land überfiel. Vor einem Pulk von Fotografen hat der Kanzler am Mahnmal zum Gedenken an den jüdischen Ghetto-Aufstand von 1943 den Kranz niedergelegt. Plötzlich sinkt er auf dem regennassen Boden auf die Knie – das Bild der Demutsgeste geht um die Welt.
„Wandel durch Annäherung“
War sie kühl kalkuliert? Billige Effekthascherei, um Sympathie zu erheischen? Zeitlebens wurde Brandt das gefragt. In seinen Memoiren schrieb er: „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last Millionen Ermordeter tat ich das, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.” Auch Egon Bahr, des Kanzlers Vertrauter und Vordenker der von der Union scharf bekämpften neuen Ostpolitik und der Leitlinie „Wandel durch Annäherung”, war überrascht, als es geschah.
„Ohne Zweifel war Brandts Geste hilfreich für seine politischen Ziele”, sagt der Bochumer Politikwissenschaftler Prof. Uwe Andersen: „Und Brandt genoss eine große Glaubwürdigkeit”, als er sowohl als emotional ergriffener Mensch als auch als Kanzler gekniet habe. Viele Historiker sehen es ähnlich: Während der Warschauer Vertrag ein formeller politischer Akt gewesen sei, sei der Kniefall ein gefühlsgeladener Ausdruck des Wunsches nach Vergebung für die unzählbaren – jüdischen – Opfer der NS-Aggression und der Nazi-Barbarei in Polen gewesen.
Der Kanzler findet nicht nur Beifall
Beileibe jedoch findet der Kanzler nicht nur Beifall. In Polen gibt es Kritik: Brandts Geste habe lediglich den jüdischen Opfern im Ghetto gegolten, nicht aber denen der Polen. In Deutschland selbst wird teils massive Anfeindung laut. „Verzichtspolitiker” wird er gescholten, denn im Warschauer Vertrag erkennt die Bundesregierung die von den Siegermächten gezogene Oder-Neiße-Grenze als Polens Westgrenze an. Damit habe sie die Ostgebiete wie Oberschlesien, Danzig, Posen, West- und Ostpreußen preisgegeben.
„Die Bitterkeit bei Flüchtlingen und Vertriebenen, die sich trotz aller Einsicht von Kriegsschuld und -folgen als Opfer fühlten, war groß”, so Andersen. Flucht und Vertreibung hatten zu größtem Leid und hohem materiellen Verlust geführt. Manche Wunde, die Brandts Regierung zugeschrieben wurde (obwohl später alle Parteien die Ostverträge als Basis der Ostpolitik akzeptierten), ist noch nicht verheilt.
Brandt selbst erklärte zu den Ostverträgen, es sei nichts verloren gegangen, „was nicht längst verloren war”. Auf dem Willy-Brandt-Platz in Warschau erinnert eine Gedenkplakette an den Kniefall. 1971 erhielt Brandt den Friedensnobelpreis für seine Entspannungspolitik. Am 8. Oktober 1992 starb er. „Man hat sich bemüht” steht auf dem Grab.