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Bei „Hart aber fair“ wurden Wege diskutiert, wie man dem Willen der Wähler nach mehr Transparenz bei politischen Entscheidungen erfüllen könnte – ohne dem Populismus Tür und Tor zu öffnen.
Deutschland wird zusehends unregierbarer – kaum ein größeres Bau- oder Infrastruktur-Projekt geht derzeit in die Umsetzungsphase, ohne dass sich Bürgerproteste erheben und Sitzblockaden formieren. Der Zorn der scheinbar immer leichter zu mobilisierenden Demonstranten trifft nicht nur den Abriss des Stuttgarter Sackbahnhofes. Auch in kleinen Kommunen wird erbittert um jede neue Straße, jedes neue Projekt gestritten. Und über dieses Phänomen wurde gestern bei „Hart aber fair“ ebenso heftig verbal gerauft.
Wieso ist der früher eher brav veranlagte Deutsche inzwischen so dauerrenitent? Wie muss die Politik reagieren? Sind die Entscheider – weil machtvergessen – schuld an dem Widerstand? Die Materie ist natürlich (wie die meisten anderen) viel zu komplex für eine Polit-Talkshow und der ihr innewohnenden Neigung zur Eitelkeiten-Parade. Die gestrige Runde (Entwicklungsminister Niebel – FDP, S21-Schlichter Heiner Geißler – Noch-CDU, Renate Künast – Grüne, Wolfram Weimer – Focus-Chef und Sebastian Frankenberger – Bürgerentscheid-Aktivist) hat sich allerdings Mühe gegeben, zu differenzieren:
Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild
Ergebnis: Es gibt mehrere Strömungen, die die Lust am Protest schüren: „Der Veränderungswille der Gesellschaft hat abgenommen“, konstatierte etwa Focus-Chefredakteur Weimer. Die Bevölkerung wird älter – und damit wachsen die Beharrungskräfte, das einmal erworbene zu verteidigen. Wer ein Haus gekauft hat, mag keine Baumaßnahmen vor seiner Tür – mögen sie gesamtgesellschaftlich noch so sinnvoll sein. Selbst der hartgesottenste Grüne wird ungemütlich, wenn in Sichtweite seines Ökohauses die neue Fernleitung für die Windenergie von der Küste gebaut wird. So entstehen verwirrende Gefechtssituationen: Während die Parteien im Bund etwa den Ausbau von Zugverbindungen oder der erneuerbaren Energien propagieren, machen die Parteifreunde vor Ort dagegen mobil, wenn es ernst wird. Zusammenfassend: In der jetzigen Situation wäre Deutschland nicht mehr in der Lage, die Aufbauleistung des Wirtschaftswunders zu wiederholen. Und langfristig ist mit so einer Haltung der Industriestandort gefährdet: Denn dort, wo industriell produziert wird, ist es selten kuschelig-gemütlich, sondern da gibt es Dreck und Lärm. Aber eben auch Arbeitsplätze – diese Güterabwägungs muss gesamtgesellschaftlich geschehen und kann nicht dem Anwohner überlassen werden.
Aber das mus wohl anders gestaltet werden als bisher. Denn es gebe - und das wurde Super-Schlichter Heiner Geißler nicht müde zu betonen - ein geistiges Demokratiedefizit: Politik wird zu wenig erklärt, Politiker erscheinen zusehends lustlos, für ihre Meinung, ihre Projekte zu werben und Mehrheiten herbeizudebattieren. So werden Entscheidungen in Gremien getroffen – und das wiederum weckt zurecht Misstrauen. Geißler plädiert daher, im Falle von Großprojekten die Entscheidungsfindung an das Schweizer Modell anzulehnen. Sein Vorschlag: Volksabstimmung in Phasen. In Phase 1 wird über das Projekt generell abgestimmt, in Phase II über Alternativen der Umsetzung, Phase III der konkrete Baubeschluss. Das schaffe Transparenz und Klärung und sorge für eine weitgehende Beteiligung. Die Planung dauere mitunter länger – aber der Bau gehe letztlich schneller, weil weniger juristischer Widerstand zu erwarten wäre.
Bei zu viel Bürgerbeteiligung kann Populismus drohen
Künast stimmte zu und verwies auf die veränderte Mediennutung: Aufgrund des Internets seien Informationen mittlerweile leichter und schneller zugänglich – und auch Protest sehr viel leichter zu organisieren. Diesem Umstand müsse die politische Willensbildung angepasst werden.
FDP-Mann Niebel gab allerdings zu bedenken, dass solche Modelle nur funktionieren, wenn es den mündigen und aufgeklärten Bürger in Reinform gebe. Das heißt, der Bürger müsse die angebotenen Informationsmöglichkeiten auch nutzen, bevor er eine Entscheidung von gesamtgesellschaftlicher Relevanz fälle. Dass das mitunter völlig schief geht, das haben die Schweizer bewiesen, die mit ihrer Verschärfung des Ausländerrechtes gegen geltende Gesetze verstoßen haben. Die Gefahr von mehr Bürgerbeteiligung lauert darin, dass Populismus sehr viel überzeugender zu vermitteln ist, als differenzierte Sichtweisen.
Etwas Schärfe kam in die Debatte, weil der Moderator Renate Künast unbedingt nachweisen wollte, dass die Grünen mit derlei Populismus derzeit gut fahren: Die Partei springe, so Plasberg, auf jeden Demozug – unabhängig von dem, was die Grünen zuvor gesagt und getan haben. In Gorleben protestierte die Grünen-Spitze gegen Castor-Transporte, die sie zuvor in Regierungsverantwortung noch durchgesetzt haben. Die Bundesgrünen trommeln für Biogas-anlagen – die örtlichen Parteiverbände munter dagegen. Die Grünen protestieren gegen S21 – haben aber bereits durchblicken lassen, dass sie das Projekt im Falle einer Regierungsverantwortung nicht stoppen würden. FDP-Kollege Niebel fasste süffisant den ewigen Konflikt zusammen: In der Opposition ist die klare Lehre möglich, die Demokratie lebt aber von Kompromissen, die man als Regierung nun mal schließen müsse – das kostet Stimmen bei der Klientel. Das ist eine Erklärung, warum solche Vorgänge selten offensiv erklärt und zu kommuniziert, sondern lieber schamhaft im Hinterzimmer exekutiert werden.
Gesäuselte Loblieder auf Heiner Geißler
Der Abend endete dann mit endlos gesäuselten Lobliedern auf Heiner Geißler und seine Schlichtungsmoderation zu Stuttgart 21. Das habe bewiesen, dass man in Deutschland politische Diskussionen auch offensiv, verständlich und in aller Breite der Argumente führen könne (Weimer, Künast, Frankenberger). Das sei ein Modell der Zukunft. Der nicht uneitle Geißler genoss die Hymnen. Der Mann, dessen größtes Talent lange Zeit die messerscharfe Zuspitzung war, gilt heute als Muster der Vermittlung: Vom „schlimmsten Hetzer seit Goebbels“ (Willy Brandt) ist Geißler mittlerweile zum Kapitalismuskritiker und politischen Heerführer für mehr Bürgerbeteiligung mutiert. Immerhin ein Beweis, dass politische Veränderung in Deutschland durchaus noch möglich ist.