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Der Schlichterspruch von Heiner Geißler mit der Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung bei Großprojekten fordert die Politik heraus.

Stuttgart tut sich schwer mit dem Bahnhofs-Frieden. 200 Demonstranten zogen Dienstagabend vor das Rathaus, demonstrierten ge­gen Heiner Geißler und den Schlichterspruch. Später kam es am Schloss zu Rempeleien. Eine Scheibe ging zu Bruch. Stuttgart 21 spaltet also weiter die Stadt. Für Samstag haben die „Parkschützer“ Demonstrationen angekündigt. Befürworter des Neubaus „S 21“ wollen donnerstags auf die Straße gehen. „Ich glaube nicht, dass der Protest aufhört“, sagt Winfried Hermann (Grüne), Verkehrsausschuss-Chef im Bundestag. Auch In­diz dafür: Die Bahn will den Baustopp aufheben. Die Bagger werden wieder rollen.

Der Spruch des CDU-Politikers zum Schlichtungsende, in dem er sich für den Bau des mit der Strecke nach Ulm sieben Milliarden Euro teuren Projekts ausspricht, fordert die Po­litik heraus. Baden-Württembergs Verkehrsministerin Tanja Gönner (CDU) sieht keine Notwendigkeit, den geplanten acht Gleisen im Untergrund zwei weitere hinzuzufügen, wie es Geißler als Ergänzung verlangt. Es ist ein heikler Punkt. Gönner fürchtet: Nachbesserungen könnten so teuer werden, dass das Ge­samtprojekt doch kippt.

Baden-Württembergs Mini­sterpräsident Stefan Mappus (CDU) be­grüßt den Schlichterspruch. Er ist sicher, dass der vom Vermittler verlangte „Stresstest“ (die Prüfung, ob der Neubau 30 Prozent mehr Kapazität schafft) gelingt. In „Dialogforen“ soll der Kontakt mit Gegnern aufrecht er­halten werden. Stuttgarts SPD-Spitzenkandidat Nils Schmid ist enttäuscht. Geißler habe mit dem Votum für den Weiterbau die eigene Neutralität infrage gestellt.

„Zu viele Hürden“

Geißlers Auftritt bringt auch den Berliner Apparat auf Touren. Seine Erwartung, bei Großprojekten generell mehr Bürgerbeteiligung und mehr Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild zu ermöglichen, könnte zu einem Spitzenthema des Jahresendes werden. FDP-Generalsekretär Christian Lindner hält es für „denkbar, an den Beginn eines Projekts den Bürgerentscheid zu setzen“. Insgesamt gilt: Unionspolitiker äußern sich zurückhaltender zu stärkerer direkter Demokratie. Die SPD ist da schon länger offensiver.

Doch wie funktioniert mehr Bürgerbeteiligung vor Ort? In Nordrhein-Westfalen hält der Geschäftsführer der Organisation „Mehr Demokratie“, Alexander Slonka, „neue Formen von Bürgerbeteiligung für nö­tig“, sagte er der WAZ. „Vor al­lem mehr Bürgerbegehren und mehr Bürgerentscheide“. Bürger müssten heute „zu viele formale Hürden“ überwinden, auch, wenn das System insgesamt funktioniere. „Man darf nicht interessante Themen, zum Beispiel das Baurecht, vom Bürgerentscheid ausnehmen“, fordert er.

Es gibt zudem, aus Slonkas Sicht, aktuelle positive Beispiele: „Erst wird im Bürgerbegehren eine Entscheidung gefällt und dann setzt man sich an einen Runden Tisch und debattiert über das Wie. Das passiert in letzter Zeit immer häufiger.“

Gegen Einkaufscenter

In Köln stoppten 52 000 Bürger per Begehren den Ab­riss des Schauspielhauses. Sie erarbeiten derzeit ein Sanierungskonzept. In Siegburg lehnte man den Bau eines Einkaufscenters ab – um jetzt ei­nen Plan für eine attraktivere City zu entwickeln. In Bielefeld werden 80 Bürger gemeinsam mit der Stadt in einem „Forum“ beraten, was mit Grundschulen passieren soll.

„Alles, was das Parlament entscheidet, kann auch im Bürgerentscheid zur Debatte gestellt werden“, sagt Slonka. Nur rechtzeitig müsse das passieren, auf der Basis eines Konsenses. Das lehre Stuttgart.