Bochum. .

Sinje Caren Stoyke arbeitet seit sieben Jahren für die Internationale Kommission zur Suche vermisster Personen. Die Archäologin hilft bei der Identifikation von Toten in irakischen Massengräbern.

Überall Knochen und Kleidungsstücke, Fliegen und beißender Gestank. „Man gewöhnet sich daran“, sagt Sinje Caren Stoyke, die seit sieben Jahren für die Internationale Kommission zur Suche vermisster Personen (ICMP) arbeitet. Anfangs sei ihr etwas flau im Magen gewesen als sie zum ersten Mal auf einem Massengrab stand, doch mit der Zeit ginge es immer besser. Mittels DNA und viel detektivischer Kleinarbeit kann die 40-jährige Bochumerin und ihr Team die Opfer im Irak auch mehr als 20 Jahre nach den Massakern an Kurden und anderen Minderheiten identifizieren.

Kurz nach dem Einmarsch der Amerikaner im Irak 2003 gründet die Bochumerin mit Magisterabschluss in vorderasiatischer Archäologie eine regierungsunabhängige Organisation, eine NGO, und geht mit wenig Spendengeldern und Eigenkapital, dafür aber mit viel Herzblut in den Irak. „Ich dachte mir, dass wir unser Wissen den Menschen in diesem Land weiter vermitteln sollten“, erinnert sich Sinje Stoyke. „Besser als in einem deutschen Arbeitsamt zu hocken war das allemal.“

Babyspielzeug und Schmuck in den Gräbern

Wenn die schwarzhaarige Frau von ihrer Arbeit spricht, fallen ihr immer wieder erst die englischen Begriffe ein. Abkürzungen irakischer Organisationen sind ihr so geläufig wie anderen nicht mal die Fußballspieler ihres Lieblingsvereins.

Im Irak baut Sinje Stoyke ein Netzwerk zwischen verschiedenen Hilfsorganisationen, der Übergangsregierung und den amerikanischen Truppen auf.. Als die ersten Massengräber offiziell geöffnet werden, ist sie dabei. Eine harte Erfahrung für die Archäologin, die zwar während ihres Studiums schon in Syrien bei Ausgrabungen mitgeholfen hat. „Meistens waren aber die Toten, die wir gefunden haben, schon seit Jahrhunderten tot.“

Anders ist es im Irak. Die Menschen in den Massengräbern sind erst vor wenigen Jahren bei Massakern umgebracht worden. Sie haben persönliche Gegenstände dabei. Tragen Kleidungsstücke in mehreren Lagen, weil sie dachten, sie würden bloß umgesiedelt. Babyspielzeug und Schmuck finden sich in den Gräbern. „Man darf das alles nicht zu dicht an sich heran kommen lassen“, versucht Sinje Stoyke zu erklären, wie sie die Arbeit bewältigt. Denn ihre Aufgabe gefällt ihr, trotz alledem. Auch, wenn die ersten Tage auf den Massengräbern schwierig sind. In ihrem Team machen alle zum ersten Mal diese Erfahrungen, sprechen nach der Arbeit darüber und versuchen sich gegenseitig aufzufangen.

Leben in einem abgeschotteten Straßenzug Bagdads

„Die Arbeit unter diesen Bedingungen kann nur im Team funktionieren“, sagt Sinje Stoyke. Für die ICMP arbeitet Sinje Stojke in Bagdad und lebt in einem abgeschotteten Straßenzug. Nicht mal fünf Minuten braucht die Exil-Bochumerin, um eine Runde im gesicherten Bereich zu drehen. „Wir hocken nach der Arbeit wirklich aufeinander“, erzählt sie von ihrem Alltag. Nur mit Spielekonsolen kann sie fit bleiben, sich bewegen, sich abreagieren. Facebook ist die Nabelschnur nach draußen. „Wenn das Team nicht passt, kann schnell der Lagerkoller kommen.“ Mit ihren irischen, amerikanischen und englischen Kollegen kocht sie gern. Einkaufen kann sie wegen der mangelnden Sicherheit in der Stadt aber nicht, das macht ein Iraker für sie. Per Mail ordert sie bei ihm Reis, Fleisch, Seife und Bier, einen Tag später bekommt sie die Ware geliefert.

Anders sieht es in Erbil im Norden des Iraks aus, wo die ICMP ein zweites Büro eröffnet hat. Dort ist die Sicherheitslage entspannter, dort kann sich Sinje Stoyke relativ frei bewegen. Doch an diese Freiheit muss sie sich immer wieder erst gewöhnen. In einem riesigen Einkaufszentrum hatte sie den Wagen schon mal bis oben vollgepackt, konnte sich dann aber für nichts entscheiden und ging mit leeren Händen wieder nach Hause.

Freude auf die Bochumer Currywurst

Zurzeit schult die ICMP das Personal der irakischen Gerichtsmedizin und des Menschenrechtsministeriums darin, Leichen aus Massengräbern zu identifizieren. Nicht nur die DNA ist dabei wichtig, sondern auch die vielen Teile des Bildes, das sich vor Ort ergibt. Wenn das Projekt im Irak richtig angelaufen ist, sollen sich die Spezialisten nicht nur auf die Analyse des Genmaterials verlassen. Zusätzlich sollen sie die Angaben der Angehörigen zu den Toten überprüfen. Sinje Stoyke und ihr Team gehen vielen Fragen nach: Stimmt das Alter des Toten mit den Angaben der Verwandten überein? Sind am Skelett Spuren bestimmter Krankheiten zu erkennen? Wo wurden die Menschen umgebracht? Erst wenn dieses Puzzle fertig ist, werden die Angehörigen der Opfer informiert. „Zum Glück übermitteln andere Mitarbeiter die Nachricht, das könnte ich nicht“, sagt Sinje Stroyke, die sonst wirkt, als könne sie nur wenig erschüttern.

Nach zwei Monaten Arbeit hat sie vier Wochen frei. Wenn sie dann zurück in die Heimat kommt, freut sie sich besonders auf eine echte Bochumer Currywurst. „Das ist dann meist die erste Amtshandlung, wenn ich zurück bin.“ In den Wochen in Langendreer genießt sie ihre Freiheit, die sie sonst nicht hat. „Ich fahre mit dem Rad um den Kemnader See und gehe shoppen, bis die Kreditkarte schmilzt.“