Berlin. Nach dem Ergebnis der Europawahlen sehen Experten kaum noch Chancen für SPD-Kandidat Frank-Walter Steinmeier, das Kanzleramt zu erobern. Laut Analysen führender Politikwissenschaftler könnte es bei der Bundestagswahl auf eine Fortsetzung der Großen Koalition hinauslaufen.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier kann seine Hoffnungen auf das Kanzleramt nach Einschätzung von Experten wohl begraben. Das unerwartet niedrige Ergebnis der SPD bei der Europawahl am Sonntag sei ein «Denkzettel für Steinmeier» als Kanzlerkandidat, sagte die Politologin Tanja Börzel von der Freien Universität Berlin. Auch der Politikwissenschaftler Jürgen Falter von der Universität Mainz meint, für Steinmeier sei der Kampf ums Kanzleramt «nicht leichter geworden». Nach Einschätzung von Forsa-Chef Manfred Güllner steckt die SPD in einer «existenziellen Krise».

Große Koalition reloaded?

Falter und Börzel äußerten die Auffassung, dass die Aussicht auf Fortsetzung der Großen Koalition nach der Bundestagswahl am 27. September gestiegen sei. Steinmeier habe bestenfalls eine Chance in einer Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP, meinte Falter. Eine solche Koalition sei aber für die FDP fast «ein Akt der Selbstaufgabe». Der Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa, Güllner, sagte hingegen, nach seinen Erkenntnissen könnte es im Herbst für eine bürgerliche Mehrheit aus Union und FDP durchaus reichen.

Die SPD ist mit einem Ergebnis um die 21 Prozent - und damit noch geringfügig unter dem Ergebnis von 2004 - der klare Verlierer der Wahl, die FDP mit einem Stimmengewinn von rund fünf Prozentpunkten der klare Gewinner, meinten die Politikwissenschaftler und der Meinungsforscher.

Güllner sprach hinsichtlich der SPD von «Auflösungserscheinungen», die sie auch nach dem Führungswechsel zu Parteichef Franz Müntefering und Kanzlerkandidat Steinmeier nicht habe beheben können. Das Personalangebot der SPD sei «minimal». Steinmeiers Dilemma liege darin, dass er die Anerkennung für seine Arbeit als Außenminister nicht in Zustimmung für ihn als Kanzlerkandidaten ummünzen könne. Als solcher wirke er immer noch «profillos».

«Die Deutschen sind ein Volk der Sparer»

Börzel schließt aus dem Verlust der SPD und dem Zugewinn der FDP, dass die Deutschen das Konzept, die Wirtschaftskrise mit immer höherer Staatsverschuldung zu bekämpfen, nicht gutheißen. «Die Deutschen sind ein Volk der Sparer», sagte die Politologin. Sie könnten es nicht gut heißen, immer mehr Geld in marode Konzerne zu pumpen, und wüssten, dass sie die hohe Staatsverschuldung irgendwann mit höheren Steuern bezahlen müssten.

Der Wählerschwund bei der Union von knapp sechs Prozentpunkten ist nach Auffassung der beiden Politikwissenschaftler und des Meinungsforschers mit einer Abwanderung zur FDP zu erklären. Güllner sagte, die FDP biete eine Alternative für die mit der Union Unzufriedenen. Laut Falter profitiert die FDP davon, dass die Union in der Krise gegen wirtschaftspolitische Ordnungsprinzipien verstoßen habe. Außerdem hätten die Liberalen es geschafft, sich mit ihrer Spitzenpolitikerin Silvana Koch-Mehrin eine Art Markenidentität zuzulegen. Koch-Mehrin sei eine der wenigen Europapolitiker, die einer breiten Öffentlichkeit bekannt seien.

Linksrutsch der SPD wäre «tödlich»

Die Verluste der CDU werteten die beiden Politikwissenschaftler nicht als gravierend, da die Partei vor fünf Jahren ein Rekordergebnis unter besonderen Umständen eingefahren habe. Merkel müsse daher vor dem 27. September nicht zittern, sagte Falter. Das relativ gute Ergebnis der CDU, die Zugewinne der FDP, zusammen mit dem unerwartet stabilen Ergebnis der CSU in Bayern stärkt nach Auffassung der Experten das bürgerliche Lager. Für eine schwarz-gelbe Koalition werde es aber möglicherweise nicht reichen. Dem widersprach Güllner, der eine gute Ausgangslage für ein Bündnis aus Union und FDP sieht, auch wenn die Europawahl «keine Testwahl» für die Bundestagswahl gewesen sei.

Die Politologin Börzel erwartet, dass die SPD bei der Bundestagswahl etwas besser abschneidet. Denn die Wähler tendierten dazu, die eigene Partei bei einer Europawahl «kostengünstig» abzustrafen. Auch Güllner rechnet damit, dass die SPD im Herbst mehr Wähler mobilisieren können werde. Ein Linksrutsch als Konsequenz aus dem Europawahlergebnis wäre allerdings «tödlich», denn die SPD hätte in jüngster Zeit vor allem Wähler in der Mitte verloren.

Falter rechnet hingegen damit, dass die SPD von nun an einen noch stärkeren «Umverteilungswahlkampf» führen werde. Er rechnet ebenfalls damit, dass sie ihre Wähler bei der Bundestagswahl besser mobilisieren könne als bei der Europawahl.