Essen. Die Parteien halten sich ihre Bündnisaussage offen - und verwirren damit ihre Wähler. Die Bürger geben ihre Stimme ab, wissen aber nicht, wen und welche Politik sie damit in einer Koalition unterstützen. Der Grund für die Kurswechsel: Parteien wollen Druck auf potenzielle Partner aufbauen.

Ampel, Jamaika, Schwarz-Gelb, Rot-Rot-Grün – oder am Ende doch wieder Schwarz-Rot? Vier Monate vor der Bundestagswahl ist die politische Farbenlehre in der Republik unübersichtlicher denn je. Parteiführer, die sich eben noch gegenseitig verbal scharf attackierten, öffnen im nächsten Moment die Tür für ein gemeinsames Bündnis. Mittendrin steht der Wähler und fragt sich zunehmend irritiert: Was geschieht mit meiner Stimme?

Angriffe per Wahlplakat

Jüngstes Beispiel für die parteipolitischen Dehnungsübungen ist die SPD. Zwar plakatierte sie gerade einen Furcht erregenden Hai mit Schlips, Kragen und messerscharfen Zähnen, dazu den Slogan: „Finanzhaie würden FDP wählen." Gelten die Liberalen den Genossen doch als „marktradikal" und „neoliberal", mithin als Synonym für Casino-Kapitalismus und Börsenzockerei. Die FDP kontert per Plakat: „Pleitegeier würden SPD wählen." Die Sozis, so die Botschaft, können eben nicht mit Geld umgehen.

Und nun? „In wichtigen Politikfeldern wie Innen-, Rechts-, Außen- und Sicherheitspolitik gibt es für die SPD größere Gemeinsamkeiten mit der FDP als mit CDU und CSU", teilte SPD-Fraktionschef Peter Struck dem verblüfften Wahlvolk mit. Und FDP-Chef Guido Westerwelle ließ die Tür für ein sozialliberales Bündnis unter Einbeziehung der Grünen offen.

Verlust der Orientierung

Angesichts derart rasanter Kurswechsel verlieren immer mehr Wahlberechtigte die Orientierung. Gibt der Stahlarbeiter seine Stimme bei der Bundestagswahl am 27. September beispielsweise der SPD, weil er eine linke Politik will, muss er damit rechnen, mit seinem Votum eine rot-gelb-grüne Ampelkoalition oder aber eine Neuauflage der Großen Koalition zu unterstützen. Und der Mittelständler oder Freiberufler, der die unternehmerfreundliche Politik der FDP in einem Bündnis mit CDU/CSU präferiert, stärkt mit seiner Stimme womöglich eine SPD-geführte Bundesregierung.

Ähnlich verwirrend ist die Lage für Grünen-Sympathisanten. Von Ampel bis zu Jamaika mit Union und FDP scheint nichts ausgeschlossen. Selbst CDU-Wähler können nicht vorhersagen, für welches Bündnis sich die Union nach dem Wahlabend entscheiden wird – Große Koalition, christlich-liberal oder Jamaika. Auffällig: Die Union ziert sich seit Monaten, eine klare Koalitionsaussage zu Gunsten der FDP abzugeben; im Gegenzug wollten sich die darob pikierten Liberalen bis dato nicht mehr als eine „Präferenz" für die Union abringen.

Faktor Macht entscheidend

Was steckt dahinter? Vor allem Druckpotenzial. Flirtet die FDP mit der SPD, lautet die Botschaft an die Union: Wir könnten auch anders. Halten sich die Grünen die Jamaika-Option offen, ist dies ein klares Signal an die SPD, sich der Zuneigung der Öko-Partei nicht zu sicher zu fühlen.

Die entscheidende Rolle spielt – natürlich – auch in der aktuellen politischen Lage der Faktor Macht. „Macht nutzt den ab, der sie nicht besitzt", sinnierte einmal der italienische Politiker Giulio Andreotti. Der Konservative war sieben Mal Regierungschef in unterschiedlichen Koalitionen. Sozialdemokrat Franz Müntefering fasste es auf seine Art ähnlich prägnant zusammen: „Opposition ist Mist."

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