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Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ erscheint heute. Doch schon im Vorfeld sorgte es für eine große Kontroverse in den politischen Feuilletons. Wir dokumentieren die wichtigsten Stimmen.

Frank Schirrmacher, He­rausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, nennt ihn den „Ghostwriter“ einer verängstigten Gesellschaft. Der „Spiegel“ hievt ihn als „Streitfall Sarrazin“ heute auf sein Titelblatt. Die liberale „Zeit“, der linke „Spiegel“ und das Boulevardblatt „Bild“ gingen eine seltene Koalition ein, druckten Teile seines Buches vor der Veröffentlichung ab und initiierten so die Debatte um seine Thesen.

Am Montag kommt „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin in den Buchhandel. Die türkischstämmige Islamkritikerin Necla Kelek stellt das Buch, das die Kanzlerin und der SPD-Vorsitzende beurteilten, ohne es gelesen zu haben, in Berlin vor. Es sorgt schon jetzt für eine Groß-Kontroverse zumal Sarrazin nicht schweigt, sondern nachlegt. Besonders provozierend: Für Integrationsprobleme von Einwanderern macht er auch genetische Ursachen verantwortlich.

„Gibt es auch eine genetische Identität?“, fragte ihn darum die „Welt am Sonntag“. „Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen, Basken ha­ben bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden“, antwortete Sarrazin. Die SPD plant den Ausschluss ihres Mitgliedes Sarrazin.

„Ich bin kein Rassist“

„Ich bin kein Rassist“, sagt Sarrazin in der „Welt am Sonntag“. „In meinem Buch rede ich zudem nicht von Türken oder Arabern, sondern von muslimischen Migranten. Diese integrieren sich überall in Europa deutlich schlechter als andere Gruppen von Migranten. Die Ursachen dafür sind nicht ethnisch, sondern liegen offenbar in der Kultur des Islam. Vergleichen sie, wie groß die Integrationserfolge von Pakistani oder Indern in Großbritannien sind.“

Bestsellerautor Erich Follath sorgt sich im „Spiegel“ um die große Resonanz auf Sarrazin. Sie zeige, dass eine Partei rechts von Liberalen und Konservativen es auf zehn Prozent Zustimmung bringen könne.

Weshalb hat Sarrazin Erfolg? Follath: „Untätige, phantasielose Politiker, so genannte Volksparteien ohne wirkliche Integrationskonzepte, und besonders auch die zerstrittenen Islamverbände haben dazu beigetragen, dass die Saat der Islamophobie in Deutschland mit der Düngung von Sarrazin und Co. aufgehen konnte.“ Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, sorgt sich um die Akzeptanz für eine aus demografischen Gründen notwendige weitere Einwanderung nach Deutschland, gibt Sarrazin aber teilweise recht.

„Massive Defizite“

Es gebe „massive Defizite“ bei der Integration, und die Einwanderung der bundesrepublikanischen Anfangsjahre habe sich zu einem „Kostenfaktor“ für Deutschlands Volkswirtschaft entwickelt. „Keine vergleichende Studie kann verheimlichen, dass sich die Menschen mit Wurzeln in der Türkei am schwersten tun mit der Integration“, schreibt Klingholz im „Spiegel“.

„Focus“-Chef Helmut Markwort sieht den „Mahner“ Sarrazin bereits als Opfer einer „Ketzerjagd“, widerspricht An­gela Merkel, die Sarrazins Thesen als „überhaupt nicht hilfreich“ kritisiert hatte und mahnt die SPD: „Sozialdemokraten, die einen Warner und ein Problem gleichzeitig wegdrängen wollen, sollten sich an ihrem großen Vorsitzenden Kurt Schumacher erinnern. Der hat gesagt: ,Politik beginnt mit dem betrachten der Wirklichkeit.’ Sarrazin schildert die Wirklichkeit, die er recherchiert hat.“

Fataler Irrweg

Tut er nicht, argumentiert FAZ-Herausgeber, Frank Schirrmacher. Er tut viel mehr. Thilo Sarrazin verändere unseren Kulturbegriff. Bislang habe sich noch jede Gesellschaft, die um ihre Identität fürchtet, in Biologismus geflüchtet. Deshalb die Aufmerksamkeit?

Schirrmacher gibt Sarrazin „in Vielem“ recht. „Aber seine Antwort ist so radikal, dass sie vor muslimischen Milieus nicht haltmachen wird. Sie betrifft alle, das sollten seine Anhänger wissen. Es ist ein Symptom, dass eine demografisch verwundete Gesellschaft ihren Ausweg in der Biologie sucht. Es ist ein fataler Irrweg. Sarrazins Intelligenzmodell kennt keine spontanen Ausbrüche an Begabung und Talent. Er kann nicht erklären, wieso viele große geistige Leistungen der letzten Jahrhunderte aus bildungsfernen Schichten stammten. Dabei wäre dies der Impuls, mit dem man auch die muslimischen Milieus aufwecken könnte.“

„Man“, schreibt Schirrmacher. Preisfrage: Wer? (UR.)