Essen. Angst muss vor der FDP keiner mehr haben. Das Steuerthema zeigt: Volksbeglückung rangiert bei den Liberalen vor Realitätssinn. Auch Guido Westerwelle will einfach nur gemocht werden.

Einen Popanz definiert das Lexikon als Schreckgestalt, als Strohpuppe, idealtypisch bekannt bei der Vogelscheuche. Ein Popanz soll abschrecken, indem der Betrachter an eine Gefahr glaubt, ohne dass es diese Gefahr wirklich gäbe. So gesehen ist die FDP der größte Popanz, der in der Politik aufgebaut wurde.

Lange geisterte ein neoliberales Schreckgespenst durch die Gegend. Es erinnerte ein wenig an den „schwarzen Mann", durch dessen bloße Anrufung Kindern früher ordentlich Angst gemacht wurde. In letzter Zeit trug dieser Mann Gelb. Doch nach Vorlage des Koalitionsvertrages und nach Beginn des Regierungshandelns zeigt sich, wie übertrieben die Sorgen waren. Was zum Vorschein kommt, ist eine weichgespülte FDP, die es bei der vermeintlich kostenlosen Volksbeglückung mühelos mit den anderen Parteien aufnehmen kann.

Lambsdorff warnt vor "Schuldenrausch"

Ein Beispiel dafür sind die Steuersenkungen, die die FDP gemäß ihrer übertriebenen Wahlversprechen durchsetzte. Nicht, dass man denjenigen Bürgern, die nennenswert Steuern zahlen und in der Regel leistungsbereite Lastenträger des Gemeinwesens sind, keine Reduzierung gönnen würde. Eine wahrhaft liberale Partei hätte sich jedoch der Mühe unterzogen, erst nach Sparmöglichkeiten bei den staatlichen Ausgaben zu suchen, um so das Pferd von der richtigen Seite aufzuzäumen.

Geld unters Volk werfen, das man nicht hat, um dem selben Volk zu einem späteren Zeitpunkt die Rechnung zu präsentieren – dafür hätte es wirklich nicht die FDP gebraucht. Ein Liberaler vom alten Schlag wie Otto Graf Lambsdorff hat sein Unbehagen jüngst öffentlich gemacht und vor einem „Schuldenrausch" gewarnt, gleichzeitig aber auf Lerneffekte gesetzt: „Korrekturen" seien möglich.

Wie es aussieht, zwingt die neue Steuerschätzung zum Umdenken, und schon vor Tagen hat Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble – kein Feind wirtschaftsliberalen Denkens – auch die Steuerreform de facto abgesagt. Von Protesten der FDP war anschließend nichts mehr zu hören. Entweder war das Wahlversprechen so ernst nicht gemeint. Oder Lambsdorffs Realitäts-Appell wirkt bereits.

"Keine soziale Gefahr"

Für den Wandel der FDP zur Wohlfühlpartei gibt es neben nicht einlösbaren Wahlversprechen noch andere Indizien. Mehrere Aussagen Guido Westerwelles, der beteuerte, „keine soziale Gefahr" zu sein, machen deutlich: Dem Mann fehlt offenbar inzwischen die Standfestigkeit, das Sprachrohr einer Minderheit zu sein, die in der sozialstaatlichen Praxis – jedenfalls auch – deutliche Entmündigungs-Gefahren sieht. Auch die FDP will wärmer rüberkommen, wird Teil einer Regierung, die an der Staatsräson des Sozialen keinen Zweifel lässt.

Einen Fingerzeig, in welche Richtung es geht, liefert die Benennung von Philipp Rösler zum Bundesgesundheitsminister. Der aufsteigender Stern der FDP hat schon vor geraumer Zeit einen Mangel an Gefühlen und sozialstaatlichem Denken bei der FDP ausgemacht und Abhilfe verlangt. Man darf gespannt sein, welche Art von Gesundheitsreform unter Röslers Regie kommen wird. CSU-Chef Horst Seehofer und NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers glauben ziemlich unverhohlen: gar keine. Ob die FDP eingedenk wachsender inhaltlicher Beliebigkeit die Kraft hat, solche Widerstände zu überwinden, ist zu bezweifeln.

Zum Mangel an Reformkonzepten gesellt sich der Rückfall in die alte Gewohnheit, Klientelpolitik über den Wettbewerb zu stellen. So wurden die traditionellen Apotheker im Koalitionsvertrag von der Konkurrenz des Versandhandels befreit. Hier hätte man sich von der FDP durchaus etwas mehr Neoliberalismus vorstellen können.

Wenn die Regierung also schon keine wirkliche Leitidee hat, dann befördert sie aber vielleicht dies: Die Liberalen bringen das Projekt der Sozialdemokratisierung der deutschen Parteienlandschaft zum Abschluss. Ein Triumph des politischen Herdentriebs.