Essen. Das System Pflegeversicherung droht zu scheitern. Immer weniger Menschen in Deutschland können den Heimaufenthalt bezahlen. Dagegen steigt die Zahl der Pflegebedürftigen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Nun nehmen Union und FDP einen neuen Reform-Anlauf.
Pflege wird in Deutschland wieder zum Armutsrisiko, besonders für Menschen, die in Heimen leben. Immer weniger können ihr Heim bezahlen, immer mehr sind auf Sozialhilfe angewiesen. In NRW stieg die Zahl der Empfänger von Hilfe zur Pflege allein von 2007 auf 2008 um rund 28 Prozent von 42 700 von 42 700 auf 54 500 an.
Damit verfehlt die 1995 von Norbert Blüm (CDU) geschaffene Pflegeversicherung zusehends ihren Zweck. Sie wurde eingeführt, damit pflegebedürftige Menschen nicht mehr zum Sozialamt müssen. Vor Einführung der Pflegekasse war das der Normalfall und galt für 70 Prozent der Heimbewohner. Blüm drückte diesen Anteil auf unter 20 Prozent, doch mittlerweile liegt er schon wieder doppelt so hoch.
Pflegekasse deckt nicht die Heimkosten
Grund: Die als Teilkasko angelegte Versicherung zahlt noch heute die Beträge von damals an Heimbewohner. Nur die Pflegesätze für die höchste und höchst selten vergebene Pflegestufe 3 wurden 2008 erstmals angehoben. Weil die Preise der Heime aber Jahr für Jahr steigen, deckt die Pflegekasse längst nicht mehr die Hälfte der Heimkosten. Die Bewohner müssen noch bis 2015 Jahr für Jahr mehr selbst bezahlen. Zumindest wollte die Große Koalition die Pflegesätze bis dahin einfrieren.
Essen. Wer sein Pflegeheim nicht selbst bezahlen kann, hat Anspruch auf Sozialhilfe. Doch müssen zuvor Ersparnisse aufgebraucht, Einkünfte offengelegt werden. Auch wird geprüft, ob Angehörige einspringen können. Partner haften ebenfalls fast mit ihrem gesamten Vermögen.
In NRW müssen Pflegeheim-Bewohner ihr Vermögen ihrer neuen Wohnstätte überschreiben. Reichen das Geld aus der Pflegeversicherung und die laufenden Einkünfte, in den meisten Fällen die Rente, nicht aus, um den Heimplatz zu bezahlen, geht es zunächst ans Ersparte. Es wird bis auf einen Schonbetrag von 2600 Euro aufgebraucht, bevor Sozialhilfe beantragt werden kann. Wenn der Partner noch lebt, muss auch er aushelfen. Für Paare liegt das Schonvermögen laut Landessozialministerium bei insgesamt 3214 Euro. Nicht angetastet wird ein selbst bewohntes Eigenheim. Für jedes Kind erhöht sich die Freigrenze um 256 Euro.
Aus den laufenden Einkünften steht Bewohnern lediglich ein Taschengeld von derzeit 96,93 Euro im Monat zu. Der Partner darf mindestens 1250 Euro im Monat für sich behalten. Von dem, was darüber liegt, holt sich das Sozialamt in der Regel etwa die Hälfte. Für andere Sozialleistungen gelten deutlich höhere Schonvermögen. Ein Hartz-IV-Bezieher kann bis zu 18 000 Euro behalten, künftig sollen es 50 000 sein. Der Staat lässt Arbeitslosen die Altersvorsorge, damit sie als Rentner nicht aufs Sozialamt angewiesen sind. Dort würden sie aber schnell landen, wenn sie im Alter ins Pflegeheim müssen. (sts)
Nun nehmen Union und FDP einen neuen Reform-Anlauf. Sie wollen schrittweise raus aus dem Umlagesystem, in das Arbeitgeber und Versicherte einzahlen. Stattdessen soll jeder selbst für den Pflegefall vorsorgen. Die zuständige Arbeitsgruppe in den Koalitionsverhandlungen empfiehlt den Parteichefs den „Einstieg in die kapitalgedeckte, individuelle Pflegeversicherung”.
Radikalausstieg ist nicht möglich
Ein Radikalausstieg ist auch nicht möglich, die heute Pflegebedürftigen haben Anspruch auf die Leistungen, wie auch FDP-Vizechefin Cornelia Pieper gestern betonte. Ein Umstieg dauert Jahrzehnte. Der erste Schritt steht aber offenbar bevor: Jeder Erwerbstätige soll eine private Zusatzversicherung abschließen, eine Art „Pflege-Riester”. Im Gegensatz zur Rente soll die private Zusatzvorsorge für die Pflege aber zur Pflicht werden.
Das wird Verfassungsrechtler auf den Plan rufen. Sie meinen, der Staat könne die Bürger nicht zum Abschluss einer Privatversicherung zwingen. Das verstoße gegen die Vertragsfreiheit. Dagegen führen Liberale ins Feld, dass der Staat Menschen, die sich die Police nicht leisten können, unterstützen werde.
Was die FDP langfristig auch für die Rente fordert, könnte bei der Pflege quasi als Laborversuch in der kleinsten Sozialversicherung ausprobiert werden. Wichtigstes Argument für die Kapitaldeckung: Wenn jeder für sich vorsorgt, ist die Alterung der Gesellschaft keine Belastung mehr. Heute müssen die Berufstätigen die steigenden Pflegekosten mitbezahlen, irgendwann sollen die Betroffenen allein für sich aufkommen.
2,3 Millionen Bedürftige
Wichtigstes Gegenargument: Die heute Berufstätigen würden doppelt zur Kasse gebeten: Sie müssten weiter in die gesetzliche Pflegekasse zahlen, um die heute 2,3 Millionen Pflegebedürftigen zu unterstützen und gleichzeitig für sich selbst vorsorgen.
Auch die Gefahr, im Pflegefall zum Sozialfall zu werden, würde eine Kapitaldeckung nicht beseitigen. Um im Alter Pflegekosten von mehreren tausend Euro im Monat allein tragen zu können, müssten große Summen angespart werden. Das wird vor allem Geringverdienern kaum gelingen. In die Bresche springt so oder so der Staat: Entweder durch hohe Zuschüsse zur Privatvorsorge – oder später durch Sozialhilfe.