Brüssel. EU-Gesundheitskommissarin Androulla Vassiliou mahnt im Interview zur Wachsamkeit: Gerade beim Wechsel in die kalte Jahreszeit könnte es zu Veränderungen des H1N1-Virus kommen: „Europa droht eine zweite Grippewelle mit mehr Todesfällen“

In Deutschland gibt es offenbar den ersten Schweinegrippe-Todesfall: Im Klinikum Essen starb eine Frau, die mit dem Virus infiziert war. EU-Gesundheitskommissarin Androulla Vassiliou spricht mit unseren Brüsseler Korrespondenten Katrin Teschner und Detlef Fechtner darüber, wie gefährlich die Schweinegrippe ist, wie sicher die Impfungen sind, die demnächst starten - und warum es unfair wäre, der Pharmaindustrie reine Geschäftemacherei vorzuwerfen.

Frau Kommissarin, müssen wir uns auf weitere Grippe-Tote einstellen?

Androulla Vassiliou: Die meisten Todesfälle in Europa betreffen bislang Menschen, die schon durch Krankheiten geschwächt waren, aber auch schwangere Frauen oder stark Übergewichte. Der Virus breitet sich zwar aus, aber in den meisten Fällen verläuft die Ausbreitung glücklicherweise mild.

Das heißt: Alles halb so schlimm wie zunächst befürchtet?

Vassiliou: Nein. Wir wissen nicht, wie sich das Virus entwickeln wird. Wir müssen deshalb sehr wachsam bleiben, gerade jetzt beim Wechsel in die kalte Jahreszeit. Europa droht eine zweite Grippewelle mit mehr Todesfällen.

Gibt es denn schon Anzeichen dafür, dass sich das Virus verändert?

Vassiliou: Unsere Sorge ist, dass sich das Virus A (H1N1) auch mit anderen Grippestämmen mischen könnte und es zu Mutationen kommt.

Wie sieht die Lage speziell in Deutschland aus?

Vassiliou: Bislang sehr gut, wenn man die hohe Bevölkerungsdichte und die Größe des Landes betrachtet. In Großbritannien und Spanien gab es viele Tote. Warum das so ist, wissen wir nicht.

Bald werden die Impfungen in den EU-Ländern anlaufen – wer soll zuerst eine Spritze gegen die Schweinegrippe bekommen?

Vassiliou: Wir haben uns mit den EU-Mitgliedsstaaten auf drei Risikogruppen geeinigt. Dazu zählen Menschen mit Gesundheitsproblemen, Kinder, Schwangere und Mitarbeiter im Gesundheitswesen.

Wenn ich aber nicht zu einer dieser Risikogruppen gehöre – darf ich mich dann trotzdem impfen lassen?

Vassiliou: Am Anfang wird der Impfstoff noch nicht reichen, um die gesamte Bevölkerung zu versorgen. Deswegen sollten wir den Risikogruppen zunächst den Vortritt geben. Später können sich selbstverständlich auch andere impfen lassen.

Werden Sie sich auch gegen die Schweinegrippe impfen lassen?

Vassiliou: Ja, da wir sehr viel auf Reisen sind, hat man den EU-Kommissaren eine Impfung empfohlen.

Können wir sicher sein, dass der Impfstoff keine gefährlichen Nebenwirkungen hat?

Vassiliou: Die europäische Arzneimittel-Agentur EMEA hat die zugelassenen Impfstoffe als sicher eingestuft. Aber die Mitgliedsländer müssen nun sehr genau beobachten, ob und welche Nebenwirkungen eintreten und diese gegebenenfalls den nationalen Behörden beziehungsweise EMEA melden. Schwangere Frauen zum Beispiel sollten sich auf jeden Fall vorher den Rat ihres Arztes einholen, bevor sie sich impfen lassen.

Einige sprechen im Zusammenhang mit der Schweinegrippe von Panikmache, die mehr der Pharmaindustrie dient als den Interessen der Patienten. Sehen Sie das auch so?

Vassiliou: Anfangs hat es tatsächlich Panik gegeben – besonders nachdem die Weltgesundheitsorganisation die Grippewelle als Pandemie eingeordnet hat. Nach dem milden Verlauf der Grippe haben sich alle wieder entspannt. Zur Panik gibt es nach wie vor keinen Grund, aber wir müssen wachsam bleiben und uns vor einer Ansteckung schützen.

Kritiker haben ihre Zweifel, dass Massenimpfungen tatsächlich notwendig sind. Können Sie denn sicherstellen, dass die ganze Aufregung nicht von der Pharma-Lobby geschürt wurde, um ordentlich Kasse zu machen?

Vassiliou: Nein, wir haben die Pharmaunternehmen sogar dazu gedrängt, so schnell wie möglich Impfstoffe zu entwickeln. Es ist daher unfair zu behaupten, diese hätten die Situation ausgenutzt. Natürlich werden sie mit dem neuen Impfstoff Geld verdienen, aber so läuft nun einmal das Geschäft.