Berlin. Familienministerin Lisa Paus (Grüne) warnt vor einer Zunahme des Antisemitismus – und sagt, wie die Schulen darauf reagieren sollten.

Die Terrorangriffe der Hamas auf Israel haben die Lage in Deutschland verändert: Hamas-Anhänger demonstrieren auf den Straßen, in den jüdischen Gemeinden geht die Angst um. Familienministerin Lisa Paus (Grüne) sagt, was jeder Einzelne jetzt tun kann – und wo der Staat stärker eingreifen muss.

Frau Paus, jüdische Schüler bleiben aus Angst vor Attacken zu Hause, am Dienstag flogen in Berlin Molotowcocktails auf eine Synagoge. Wie sicher sind Juden und Jüdinnen in Deutschland?

Lisa Paus: Jüdische Menschen müssen sich sicher fühlen können. Das hat der Bundeskanzler betont. Es darf nicht sein, dass in Deutschland im Jahr 2023 – wie geschehen – wieder Wohnungen jüdischer Familien markiert werden. Auf die Sicherheit der jüdischen Menschen in Deutschland verwenden die Sicherheitsbehörden all ihre Kraft.

Wie können jüdische Privatpersonen besser geschützt werden?

Paus: Der Schutz von Jüdinnen und Juden ist prioritär für die Sicherheitsbehörden und auch eine Aufgabe für alle, für die gesamte Bevölkerung. Das heißt, dass alle die Augen offen halten und eingreifen sollten, wenn sie antisemitische Angriffe erleben. Es kann aber zum Beispiel auch heißen, unaufdringlich anzubieten, dass man jüdische Freundinnen und Freunde oder Nachbarn im Alltag begleitet, wenn sie sich allein nicht sicher fühlen. Oder es kann aussehen wie am vergangenen Freitag, als sich in Kreuzberg viele Menschen zum Schabbat-Gottesdienst an der Synagoge versammelt haben. Ich habe mich angeschlossen. Auch das schützt jüdisches Leben.

Wer sich solidarisch mit Israel zeigt, läuft Gefahr, selbst attackiert zu werden.

Paus: Deutschland ist ein sicheres Land. Und je mehr Leute gemeinsam unterwegs sind, desto geringer ist die Gefahr. Genau deswegen ist es wichtig, Jüdinnen und Juden jetzt nicht alleinzulassen.

Parallel zur Eskalation in Nahost erleben wir eine Radikalisierung auf den Straßen hier. Müssen die Behörden härter gegen Hass vorgehen?

Paus: Die Behörden gehen da schon hart vor. Demonstrationen, in deren Rahmen sehr wahrscheinlich Straftaten begangen werden, werden verboten. In Betracht kommen in erster Linie Volksverhetzungen nach Paragraf 130 Strafgesetzbuch sowie die Billigung von Straftaten nach Paragraf 140. Wir sind in einer Situation, in der jede weitere Eskalation verhindert werden muss. Aber zum Rechtsstaat gehören auch die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit.

Müssen sich die Islamverbände stärker gegen Hass engagieren?

Paus: Ich hätte mir von den Islamverbänden eine sehr eindeutige, schnelle Reaktion nach den Angriffen auf Israel gewünscht. Wir haben es in diesen Tagen auch mit israelbezogenem Antisemitismus aus muslimischen Communitys zu tun. Aber ich möchte auch davor warnen, das Thema darauf zu verengen – Antisemitismus ist in Deutschland in allen Schichten verankert.

Die Bilder der Massaker durch die Hamas-Terroristen sind schon für Erwachsene kaum erträglich. Wie spricht man mit Kindern darüber?

Paus: Kinder müssen nicht alle Bilder sehen. Eltern haben da auch eine Fürsorgepflicht. Es gibt Bilder, die zu heftig sind. Aber mit Kindern über das Thema sprechen muss man.

Wie geht das?

Paus: Es gibt kindgerechte Nachrichtenangebote wie die Sendung „logo!“. Eltern können sie gemeinsam mit ihren Kindern schauen und sich zu den Ereignissen austauschen. Oder auch Suchmaschinen, in denen Themen für Kinder aufbereitet sind: blinde-kuh.de oder seitenstark.de. Und es gibt Angebote wie die „Nummer gegen Kummer“, an die sich Familien auch wenden können, wenn sie das Gefühl haben, sie brauchen Unterstützung.

Antisemitische Einstellungen haben in Deutschland laut einer Studie zuletzt deutlich zugenommen. Wie erklären Sie sich das?

Paus: Latenten Antisemitismus gibt es in Deutschland schon immer. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und Verschwörungsmythen haben sich antisemitische Ideen aber noch einmal verbreitet. Jetzt gerade sehen wir eine besondere Intensität des israelbezogenen Antisemitismus. Das wird sich leider auch in den Zahlen der Straftaten zeigen. Das erleben wir gerade aktuell.

In manchen muslimischen Familien gibt es über Generationen entwickelten Antisemitismus und eine massive Israel-Feindschaft. Haben wir über Zuwanderer und Flüchtlinge zusätzlichen Judenhass importiert?

Paus: Antisemitismus wird in Deutschland häufig im Hinblick auf die Shoah diskutiert – mit gutem Grund. Dieses beispiellose Morden prägt die Auseinandersetzung. Aber Antisemitismus hat verschiedene Facetten. Der Sachverständigenrat für Inte­gration und Migration kam im Jahr 2022 zu dem Schluss, dass insbesondere der israelbezogene Antisemitismus unter Menschen mit Einwanderungsgeschichte und hier gerade bei türkeistämmigen und arabischstämmigen Menschen stärker verbreitet ist. In deutschen Lehrplänen wird gegenwartsbezogener Antisemitismus zu wenig berücksichtigt.

Wie kann man das reparieren?

Paus: Wir müssen vor allem die Lehrpläne überarbeiten. Es braucht ein modernes, umfassendes Bild von Antisemitismus. Ich will aber auch betonen: Es gibt Antisemitismus aus muslimischen Communitys, aber selbstverständlich sind bei Weitem nicht alle Muslime Antisemiten. Es ist niemandem geholfen, wenn man auf Antisemitismus mit Muslimfeindlichkeit antwortet.

Auch Fake News auf Social Media prägen das Bild vom Nahost-Konflikt. Welche Unterstützung brauchen Lehrkräfte?

Paus: Es gibt zum Beispiel digitale Schulungen von Beratungsstellen, die Lehrerinnen und Lehrern beim Umgang mit diesem Thema helfen sollen. Aber die sind schnell ausgebucht, in der Breite ist das noch zu wenig. Und gerade auf Social Media ist das Thema überall, und viele Jugendliche informieren sich über Tiktok.

Was würde denn konkret helfen?

Paus: Was wir brauchen, sind im Grunde digitale Streetworker: Leute, die sich in digitalen Medien auskennen, die Expertenwissen im Bereich Antisemitismus haben und etwas von Pädagogik verstehen.

Von unseren Reportern in Israel

Das kostet Geld.

Paus: Im Moment laufen die Haushaltsberatungen im Bundestag. Die aktuelle Situation zeigt uns: Wir sollten dringend mehr Mittel für die Unterstützung der Schulen bereitstellen.

Die Ampel hatte sich vorgenommen, das Engagement gegen Extremismus besser und dauerhafter zu fördern. Das Demokratiefördergesetz ist immer noch nicht in Kraft. Wer bremst?

Paus: Das Kabinett hat das Gesetz im März beschlossen. Es liegt jetzt bei den Fraktionen im Bundestag. Mehr Tempo ist angesichts der aktuellen Ereignisse angezeigt. Das Gesetz ist wichtiger denn je!

Kann man sich als Staat eine funktionierende Zivilgesellschaft herbeifördern?

Paus: Darum geht es gar nicht. Wir haben in Deutschland eine gefestigte Demokratie. Aber sie wird derzeit von außen und wie von innen massiv angegriffen. Es gibt Regionen, in denen sich Menschen allein gelassen fühlen, wenn sie sich gegen Demokratiefeinde einsetzen. Das darf nicht passieren. Gerade hier müssen wir die Zivilgesellschaft stärken.

Bundesfamilienministerin Lisa Paus ist am 21. Oktober zu Gast beim Female Future Force Day, einer Veranstaltung der FUNKE Mediengruppe, zu der auch diese Redaktion gehört. Thema: „Kita-Krise, Teilzeitfalle, Kinderarmut – Was muss die Politik jetzt für Familien tun?“ Tickets zum Programm und mehr Informationen unter www.fffday.com