Berlin. Am 22. Februar 1943 wurden Sophie und Hans Scholl von den Nazis ermordet. Die Botschaft der Weißen Rose hat viel mit unserer Gegenwart zu tun.

„Es lebe die Freiheit.“ Das akribisch geführte Protokoll der Hinrichtung von Hans Scholl hält diese Worte als seine letzten fest. Die NS-Justiz hatte kurzen Prozess gemacht, offensichtlich wollte das Regime jeden Widerstand im Keim ersticken. In einem dreieinhalbstündigen Schnellverfahren, zu dem der Präsident des Volksgerichtshofs, Roland Freisler, nach München gekommen war, verurteilte das Gericht am 22. Februar 1943 Hans Scholl und seine jüngere Schwester Sophie wegen „Wehrkraftzersetzung“, „Feindbegünstigung“ und „Vorbereitung zum Hochverrat“ zum Tod durch Enthauptung. Noch am selben Tag wurde das Urteil im Gefängnis Stadelheim vollstreckt. Hans wurde 24 Jahre alt, Sophie 21. Auch ihr Freund Christoph Probst, geboren 1919 und Vater von drei kleinen Kindern, wird an diesem Tag hingerichtet.

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Gemeinsam mit ihren Freunden Alexander Schmorell, Willi Graf, Christoph Probst und Professor Kurt Huber bildeten die Geschwister Scholl den Kern der studentischen Widerstandsgruppe Weiße Rose, die von München aus Netzwerke ins gesamte deutsche Reich geknüpft hatte. Mit insgesamt sechs unterschiedlichen Flugblättern, von denen die ersten vier in Auflagen von jeweils etwa 100 Stück verteilt oder mit der Post verschickt wurden und das fünfte und sechste jeweils bis zu 6000 Mal vervielfältigt werden konnte, hatten sie zum Widerstand gegen die Nazi-Regierung aufgerufen.

„Manchmal graut mir vor dem Krieg, alle Hoffnung will mir vergehen“

Vor dem Eingang zum der Ludwig-Maximilians-Universität München sind die Flugblätter der „Weißen Rose
Vor dem Eingang zum der Ludwig-Maximilians-Universität München sind die Flugblätter der „Weißen Rose" als Denkmal in den Boden eingelassen. © dpa | Sven Hoppe

Die Suche nach und das Ringen um Freiheit hatte das Leben der Geschwister schon sehr früh geprägt. Hans Scholl (geboren 1918) und Sophie Scholl (1921) wuchsen im württembergischen Forchheim in einer bildungsbürgerlichen, protestantisch-pietistisch geprägten Familie auf. Das harmonische Familienleben mit insgesamt sechs Kindern änderte sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933, erst recht als sich Hans und Sophie gegen den Willen der Eltern begeistert in der Hitlerjugend engagierten. Wie so viele Jugendliche waren auch die Geschwister angetan vom Gemeinschaftsideal, das die Nationalsozialisten postulierten. Bei ihrer Konfirmation 1937 trugen Sophie und ihr Bruder Werner als einzige Uniform, um zu demonstrieren, dass sie christliche Religion und nationalsozialistische Weltanschauung für vereinbar hielten. Nachdem sie wegen bündischer Umtriebe und Hans zudem wegen angeblicher „homosexueller Betätigung“ in Konflikt mit der Gestapo geraten waren, stellten sich bei ihnen mehr und mehr Zweifel an der NS-Ideologie ein. Der Krieg verstärkte die Distanz noch. „Manchmal graut mir vor dem Krieg, und alle Hoffnung will mir vergehen“, schreibt Sophie im April 1940 an ihren Freund Fritz Hartnagel, „ich mag gar nicht daran denken, aber es gibt ja bald nichts anderes mehr als Politik, und solange sie so verworren ist und böse, ist es feige, sich von ihr abzuwenden.“

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Schon wenige Tage nach dem Angriff auf Polen hatte sie im September 1939 an Fritz, der als Offiziersanwärter „diente“, geschrieben: „Ich kann es nicht begreifen, dass nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von anderen Menschen. Ich kann es nie begreifen und finde es entsetzlich. Sag nicht, es ist fürs Vaterland.“

„Jeden einzelnen in ein geistiges Gefängnis gesteckt“

Anders als so viele Deutsche verschlossen die Geschwister nicht die Augen. Sie schauten genau hin, nahmen das Unrecht und die Verbrechen, die von Deutschen begangen wurden, sehr genau wahr, verfolgten die militärischen Entwicklungen. Die Erfahrungen, die Hans als Sanitäter im Frankreichfeldzug 1940 und an der Ostfront 1943 sammelte, hatten ihm die Augen endgültig geöffnet. Die intellektuelle Auseinandersetzung mit christlichen Autoren wie Carl Muth, Paul Claudel und Werner Bergengruen tat ein weiteres. Immer klarer realisierte er, dass der Nationalsozialismus die Menschen vergewaltigt und „jeden einzelnen in ein geistiges Gefängnis gesteckt hat“, wie er es später im ersten Flugblatt der Weißen Rose formulieren wird.

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Büste Sophie Scholls im Atrium der Ludwig Maximilian Universität München.
Büste Sophie Scholls im Atrium der Ludwig Maximilian Universität München. © imago/Ralph Peters | imago stock&people

Hans immatrikuliert sich im Frühjahr 1939 in Medizin an der Münchner Universität. Sophie folgt ihm, nach einer Ausbildung zur Kindergärtnerin, im Sommersemester 1942, um Philosophie und Biologie zu studieren. Sie ziehen in eine gemeinsame Wohnung, teilen die Liebe zur Kunst, Musik und Philosophie, pflegen einen großen Freundeskreis und sind häufiger in Konzerten, Lesungen und Diskussionsveranstaltungen anzutreffen als in der Universität – sie bot für offene, kritische Debatten schon lange keinen Raum mehr. Die Geschwister genießen das Leben in vollen Zügen. Da, wo sie sind, leuchtet München. Und trotzdem oder gerade deshalb nehmen sie das politische Leben genau wahr. Im Frühjahr 1942 beginnen Hans Scholl und sein Freund Alexander Schmorell, der wie Hans Medizin studiert, mit dem Verfassen und Drucken von Flugblättern gegen das NS-Regime; im Juni und Juli 1942 tauchen vier von ihnen in München auf. Gespickt mit Zitaten aus der klassischen Literatur und christlich-moralischen Appellen rufen die Freunde zur Verweigerung der Gefolgschaft für ein Regime auf, das Juden verfolgt und einen verbrecherischen Krieg begonnen hat. „Leistet passiven Widerstand“, heißt es im ersten Flugblatt, „Widerstand –, wo immer ihr auch seid, verhindert das Weiterlaufen dieser atheistischen Kriegsmaschine, ehe es zu spät ist.“

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„Jedes Wort, das aus Hitlers Mund kommt, ist Lüge“

Im zweiten Flugblatt benennen sie unter anderem die Verbrechen an den Juden und die Ausrottung der polnischen Elite und fragen: „Warum verhält sich das deutsche Volk angesichts all dieser scheußlichsten menschenunwürdigsten Verbrechen so apathisch?“. Sie fordern dazu auf, nicht nur Mitleid, sondern auch Mitschuld zu empfinden und die Regierung „aus der Welt zu schaffen“. Im dritten Flugblatt rufen sie zur Sabotage auf – „Ist Euer Geist schon so sehr der Vergewaltigung unterlegen, daß Ihr vergeßt, daß es nicht nur euer Recht, sondern eure sittliche Pflicht ist, dieses System zu beseitigen?“ – und entlarven im vierten Flugblatt unter anderem die Fake-News-Floskeln der Nazis: „Jedes Wort, das aus Hitlers Mund kommt, ist Lüge. Wenn er Frieden sagt, meint er den Krieg, und wenn er in frevelhaftester Weise den Namen des Allmächtigen nennt, meint er die Macht des Bösen.“

Im Frühjahr 1943 verteilen die Freunde ein fünftes Flugblatt. Hier fordern sie „alle Deutsche“ auf, sich von dem „nationalsozialistischen Untermenschentum“ zu trennen und endlich zu handeln: „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt habt. Entscheidet Euch, eh es zu spät ist.“ Das sechste und letzte Flugblatt richtete sich an die Studierenden in München. Hier benennen die Freunde die Schuld für den Untergang der Stalingrad-Armee klar; sie läge in der Verantwortung „der genialen Strategie des Weltkriegsgefreiten (…). Führer wir danken dir!“.

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Es ist dieses Flugblatt, das Sophie und Hans am 18. Februar 1943 in der Universität auslegen und von der Brüstung in den Lichthof hinabwerfen. Ein eifriger Hausmeister, der für seinen Einsatz später eine Belohnung von 6000 Reichsmark bekam, hielt sie fest und übergab sie dem Rektorat, das sie an die Gestapo auslieferte.

Die Weiße Rose ist nicht bloße Geschichte. Sie hat viel mit unserer Gegenwart zu tun. Wir alle kennen nur zu gut diese Sätze der Apathie, Bequemlichkeit, Resignation und, ja, auch Feigheit: „Das geht mich nichts an“, „das ist eben so“ oder, ganz aktuell in Bezug auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, „das ist nicht unser Krieg!“ Jede und jeder von uns kennt die empathielose Gleichgültigkeit, wenn in unserer Nachbarschaft Unrecht geschieht: „Was kann ich da schon machen?“

Eine Verpflichtung für heute, im Alltag genau hinzuschauen

Die Versuchung, sich gemütlich in der Komfortzone einzurichten und bequemer Anpassung zu erliegen, gibt es heute genauso wie vor 80 Jahren. Davon, dass wir hinschauen, dass wir Einfühlungsvermögen und Mitleiden zulassen, dass wir unsere Angst überwinden und mutig handeln, wenn Mitmenschen ihrer Freiheit beraubt, wenn sie bedroht, gequält, verfolgt oder getötet werden, hängt viel ab. Denn auf diesem Engagement beruht letztlich unser Rechtsstaat und unsere freiheitliche Gesellschaft. Beides ist nicht selbstverständlich und muss ständig verteidigt werden.

Freilich, anders als vor 80 Jahren kostet der Einsatz für den Mitmenschen heute fast nichts, das freie Wort und die freie Tat sind in Deutschland glücklicherweise ohne Lebensgefahr möglich. Umso mehr ist das Handeln der Geschwister Scholl Verpflichtung für uns heute: nicht zuzulassen, dass die Feinde der Freiheit Oberwasser bekommen und sich Populismus, Rassismus und Neonazismus weiterhin aufblasen. Verpflichtung aber auch, im Alltag genau hinzuschauen und sich einzumischen, wenn Angehörige von Minderheiten benachteiligt, Kolleg*innen gemobbt oder Schwächere missbraucht werden. Der Kampf für die Freiheit beginnt im Erkennen und Verhindern der kleinen, alltäglichen Ungerechtigkeiten.

Kurz nach der Ermordung von Hans und Sophie Scholl stand an einer Mauer der Münchner Universität der Schriftzug: „Scholl lebt. Ihr könnt den Körper, aber niemals den Geist zerstören.“ Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass dieser Geist nie erlischt. Es lebe die Freiheit!

Der Autor Tobias Korenke ist Historiker, Vorstand der Erinnerungs- und Begegnungsstätte Bonhoeffer-Haus in Berlin und Leiter der Unternehmenskommunikation der FUNKE Mediengruppe. Zuletzt erschien von Tobias Korenke im Klartext-Verlag das Buch „Widerstand aus Loyalität – Zum Verständnis einer deutschen Freiheitsbewegung“.

Die Chronologie der Weißen Rose

April 1942: Willi Graf lernt Hans Scholl und Alexander Schmorell kennen.Mai 1942: Sophie Scholl beginnt in München ihr Biologie- und Philosophie-Studium.27. Juni bis 12. Juli 1942: Hans Scholl und Alexander Schmorell entwerfen und verbreiten die ersten vier Flugblätter der „Weißen Rose“.Ende Januar 1943: Das fünfte Flugblatt der „Weißen Rose“ erscheint. Hans Scholl, Schmorell und Willi Graf verteilen rund 5000 Exemplare nachts in der Münchner Innenstadt.Februar 1943: Die Gestapo richtet eine Sonderkommission ein, die ermitteln soll, wer hinter den Flugblättern steckt.12. bis 16. Februar 1943: Das von Kurt Huber verfasste sechste Flugblatt wird gedruckt und verteilt.18. Februar 1943: Sophie und Hans Scholl werden in der Universität München verhaftet, als sie dort Flugblätter verteilen. Am Abend werden Willi Graf und seine Schwester Anneliese verhaftet. 20. Februar 1943: Christoph Probst wird in Innsbruck verhaftet.22. Februar 1943: Die Geschwister Scholl und Christoph Probst werden vom Volksgerichtshof unter Vorsitz von Roland Freisler zum Tode durch die Guillotine verurteilt. Das Urteil wird noch am gleichen Tag vollstreckt.24. Februar 1943: Alexander Schmorell wird in München verhaftet.27. Februar 1943: Kurt Huber wird verhaftet.19. April 1943: Willi Graf, Schmorell und Huber werden zum Tode verurteilt.Juni 1943: Thomas Mann spricht in einer BBC-Sendung von der „Weißen Rose“.13. Juli 1943: Schmorell und Huber werden unter dem Fallbeil hingerichtet.12. Oktober 1943: Nach monatelangen Verhören wird auch Willi Graf hingerichtet.Dezember 1943: Britische Bomber werfen das sechste Flugblatt der „Weißen Rose“ über Deutschland ab.

Dies ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung. Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei. Hier können Sie sich freischalten lassen.Sie sind noch kein Abonnent? Hier geht es zu unseren Angeboten.