Münster. Affenpocken rühren gewisse Ur-Ängste an, sagt der Historiker Malte Thießen. Aus der Corona-Pandemie lassen sich aber hilfreiche Lehren ziehen.

Die Corona-Pandemie ist nach wie vor akut, da mehren sich Meldungen einer neuen ‚Seuche‘ bei uns: Affenpocken. Medizinisch unterscheiden sie sich erheblich, doch es gibt Parallelen in unserem Umgang mit solchen Seuchen-Meldungen, sagt der Medizin-Historiker Prof. Malte Thießen. Das könnte ein Problem für die Bewältigung von Corona im Herbst werden, wo erwartet wird, dass die Infektionszahlen wieder steigen.

Nach wie vor werden täglich mehrere Zehntausend Corona-Neuinfektionen in Deutschland gemeldet. Doch mehr von sich reden macht seit Jüngstem ein anderes Virus: Affenpocken. Die Zahl bekannter Fälle aber ist derzeit verschwindend klein. Wieso beschäftigt es uns doch?

Prof. Malte Thießen: Corona war der Türöffner bei uns in punkto Aufmerksamkeit gegenüber Infektionskrankheiten. Vorher waren Volksseuchen bei uns Gewohnheit, sodass selbst geschätzte 70.000 Grippe-Tote durch die Hongkong-Grippe 1969/1970 in West- und Ostdeutschland in den Medien, aber auch in der Politik keine Rolle spielten. Das hat sich danach bei der Grippe fortgesetzt, die wir als selbstverständlich wahrgenommen haben, auch wenn das Robert-Koch-Institut etwa bei den Grippewellen der Jahre 2014 bis 2017 jeweils mehr als 20.000 Grippe-Tote schätzte. Corona hat unsere Bedrohungs-Wahrnehmung geändert. Und Affenpocken rühren bei uns auch gewisse Ur-Ängste an.

Welche Ur-Ängste meinen Sie?

„Corona war der Türöffner bei uns in punkto Aufmerksamkeit gegenüber Infektionskrankheiten“, sagt der Historiker Prof. Malte Thießen. Die jetzt bei uns auftretenden Affenpocken rühren bestimmte „Ur-Ängste“ an, sagt er.
„Corona war der Türöffner bei uns in punkto Aufmerksamkeit gegenüber Infektionskrankheiten“, sagt der Historiker Prof. Malte Thießen. Die jetzt bei uns auftretenden Affenpocken rühren bestimmte „Ur-Ängste“ an, sagt er. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Thießen: Das Virus erscheint in der Berichterstattung oft als etwas animalisches, es stammt aus dem afrikanischen Dschungel und kam in Europa bis dato nicht vor, ist also etwas Fremdes, das damit auf uns umso bedrohlicher wirkt.

Bedrohlicher als Corona?

Thießen: Der Sensationsgehalt, wenn man das so sagen kann, ist bei den Affenpocken höher, auch weil sich nach mehr als zwei Jahren Corona-Pandemie eine Art Abstumpfungsprozess gegenüber Corona in der Bevölkerung beobachten lässt. Mit Blick auf die Affenpocken passt das „Outbreak-Motiv“, wie es in der Wissenschaft genannt wird: Damit verbinden wir gewisse „Weltuntergangsszenarien“, die wir aus Kino und Fernsehen kennen. Es geht bei den Affenpocken um die zwei Ur-Ängste, die in Europa etwa seit den 1980er Jahren zu beobachten sind: „Die Natur schlägt zurück“ und die Affenpocken stehen für die „Schattenseite der Globalisierung“.

Affenpocken: Ausgrenzung Betroffener ist ein Problem

Der Queerbeauftragte der Bundesregierung warnte jüngst vor Sigmatisierung schwuler Männer. Inwieweit ist unser Umgang mit Meldungen zu dieser Seuche problematisch?

Thießen: Es ist eine menschlich typische Reaktion, dass wir einer solchen „Bedrohung“ ein Gesicht geben wollen. Das aber führt fast zwangsläufig dazu, dass wir damit Stereotype bedienen und Vorurteile. Bei Corona etwa führte das dazu, dass manche chinesisch Aussehenden in der Anfangszeit Opfer von Attacken und Ausgrenzung bei uns wurden, weil Corona ja erstmals aus China gemeldet wurde. Nachdem im Februar 2020 eine Karnevalssitzung in Heinsberg den dortigen Kreis zum ersten Corona-„Hotspot“ in NRW machte, gab es Meldungen über Sachbeschädigungen an Autos mit Heinsberger Kennzeichen. Bei den Affenpocken stehen jetzt Homosexuelle im Fokus, weil das Virus über intensiven Körperkontakt verbreitet wird und bisher wohl überwiegend Männer erkrankten. Manches Negative scheint sich jetzt zu wiederholen, als Aids in der Anfangszeit in den 1980er Jahren als „Schwulenpest“ verteufelt wurde. Das zeigt: Seuchen sind Verstärker von Stereotypen, aber nicht die Ursache. Und Ausgrenzung ist ein großes Problem, auch für unseren Kampf gegen eine weitere Ausbreitung der Krankheitserreger.

Warum?

Thießen: Wer ausgegrenzt wird oder sich vor Ausgrenzung schützen will, kooperiert weniger gern. Das lässt aber das Risiko steigen, dass sich Affenpocken weiter ausbreiten. Hinzu kommt: Wenn man Erkrankungen auf bestimmte soziale Gruppen projiziert, wird man für die eigene Gefahr blind, wenn man sich selbst nicht zu diesen Gruppen zählt. Das kann zu einer gefährlichen Sorglosigkeit führen.

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Im Internet sollen bereits erste Verschwörungserzählungen zu Affenpocken kursieren. Müssen wir uns auf Affenpocken-Leugner-Demos einstellen?

Thießen: Ich bin gespannt. Neue Bedrohungen wirken umso bedrohlicher, wenn sie an bestimmte Ängste anschlussfähig sind. Affenpocken laden zu Verschwörungstheorien geradezu ein, glaube ich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass früher oder später Verschwörungserzählungen mit der ‚Labor-Theorie‘ kommen, wonach die Affenpocken laborgemacht sind und dahinter eine dunkle böse Macht stehe. Dabei wird dann wahrscheinlich darauf abgehoben, dass Pocken inzwischen nur noch in zwei Laboren auf der Welt vorhanden sind, wobei es hier um Menschen- nicht um Affenpocken geht. Das ist aber ein wichtiger Unterschied! Die Weltgesundheitsorganisation hat die Menschenpocken 1979 für ausgestorben erklärt, was ein Erfolg der Impfstoffe war, die ab Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt worden sind.

Corona hat zu einer extremen Emotionalisierung des Impfens geführt

Gegen Pocken wird bei uns seit Mitte der 1970er Jahre nicht mehr geimpft. Nun aber hat Bundesgesundheitsminister Lauterbach angekündigt, Pockenimpfstoff sei angesichts der Affenpocken bestellt. Wie steht es um die Akzeptanz dieser Impfung?

Thießen: Seit es das Impfen gibt, gibt es auch Impfgegner. Das Impfen war immer auch eine politische Frage, wie sich zuletzt an der Debatte über die Impfpflicht zeigte: Wir impfen nicht nur für uns selbst, sondern auch für den Schutz anderer. Es stellt sich dabei immer auch die Frage, wie solidarisch kann man oder muss man sein in einer Gesellschaft? Corona hat für eine extreme Polarisierung und Emotionalisierung des Impfens gesorgt. Das wird jetzt ein Problem sein – auch für die nächste Impf-Kampagne bei Corona.

Warum?

Thießen: Die Corona-Impfung ist ein Stück weit auch die Geschichte einer Enttäuschung. Weil die Impfung gegen Covid-19 von Anfang an mit einer Heilsgewissheit verbunden war, die von außen herangetragen wurde. Aber diesen hohen Erwartungen sind die bisherigen Impfstoffe insofern nicht gerecht geworden, als dass auch Geimpfte das Virus weiter verbreiten und auch daran erkranken können. Gleichwohl ist nachgewiesen, dass die Impfung schwere Krankheitsverläufe in den weitaus meisten Fällen verhindert. Und Impfnebenwirkungen sind vergleichsweise selten. Das war bei der Pockenimpfung lange Zeit lang ganz anders.

Gibt die Debatte um neue Pockenimpfungen Impfgegnern Auftrieb?

Thießen: Pocken haben eine lange Tradition bei Impf-Gegnern. Moderne Impfstoffe sind deutlich besser, doch die Pocken-Impfung hatte über eine lange Zeit die höchste Gefahr schwerer Nebenwirkungen, bis hin zum Tod. Wobei die Pocken im 18. und 19. Jahrhundert neben Cholera und Tuberkulose die größte Geißel der Menschheit waren. Fast ein Drittel der Erkrankten starb ohne Impfung oder erlitt durch Pocken schwere Behinderungen oder Entstellungen. Die Kindersterblichkeit war enorm hoch.

Lehre aus Corona: „Die Pandemie sind wir“

Kaum eine Stadt war in der bisherigen Hochphase der Pandemie ohne Corona-„Spaziergang“, es gab mehrfach Attacken auf Politiker und Corona-Leugner und Gegner der staatlichen Schutzmaßnahmen mobilisierten auch zu einem Sturm auf das Reichstagsgebäude in Berlin: Könnten die Affenpocken für neue Unruhe auf den Straßen sorgen?

Thießen:Ich schätze das Mobilisierungspotential bei Affenpocken nicht so hoch ein, wie bei Corona. Die Pocken waren viel bedrohlicher für Menschen, als es nun die Affenpocken sind. Zudem lassen sich Affenpocken deutlich besser durch Vorbeugung, Nachverfolgung und Impfung handhaben als Corona, weil der Übertragungsweg viel eingegrenzter ist.

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Welche Lehren sollten wir aus unserem Umgang mit Corona ziehen, um auf künftige Pandemien mit weniger Aufregung oder Angst zu reagieren?

Thießen: Ich sehe zwei Lehren aus Corona, die Anlass zur Hoffnung geben. Obwohl die sogenannten Querdenker in der Pandemie oftmals im Fokus standen, hat sich der weitaus größere Teil der Gesellschaft solidarisch und pragmatisch im Umgang mit Corona gezeigt, sich vernünftig verhalten und so dabei geholfen, dass die Pandemie eingedämmt werden konnte. Am wichtigsten scheint mir aber diese Lehre aus Corona: Die Pandemie sind wir. Wir haben es selbst in der Hand, wie sich eine Pandemie entwickelt. Wenn man dies beherzigt, müssen die Affenpocken kein großes Problem werden.

>> Zur Person

Prof. Malte Thießen, geboren 1974, ist Historiker und leitet das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe. Zu seinem Forschungsbereich zählt auch die Geschichte der Gesundheit, Gesundheitsvorsorge und des Impfens. In seinem Buch „Auf Abstand“ hat er sich mit der Coronapandemie beschäftigt (Campus Verlag, 2020). Das oben zu lesende Interview habe ihm den Impuls gegeben, „noch einmal neu über die Affenpocken nachzudenken“, sagt er.