Berlin. Die Ursache der Flut liegt für Christian Lindner auf der Hand. Wie der FDP-Chef mit der Klimakrise umgehen will, sagt er im Interview.

In den Wochen vor der Bundestagswahl führt unsere Redaktion große Interviews mit den Kanzler- und Spitzenkandidaten aller Parteien. Den Auftakt bildet FDP-Chef Christian Lindner, der seine eigenen Schlüsse aus der Flutkatastrophe im Westen unseres Landes zieht.

Herr Lindner, die Flut hat viele Menschen ohne Vorwarnung getroffen. Warum funktioniert in Deutschland der Katastrophenschutz nicht?

Christian Lindner: Es sind entsetzliche Bilder. Wir alle fühlen mit den Opfern. Ich habe selbst Familie in Erftstadt und in Leichlingen und bin froh, dass alle wohlauf sind. Wir werden zukünftig mit vielen Folgen des globalen Klimawandels zu tun haben - und müssen uns dafür rüsten.

Dazu gehört ein niedrigschwelliges und digitales Frühwarnsystem. Mit der Mobilfunkinfrastruktur sind Warnungen per SMS auf jedes Handy in einem Gefahrenbereich leicht umsetzbar. Allerdings behindert die Rechtslage diesen Cell Broadcast, der in anderen Ländern üblich ist. Das will die FDP ändern.

„Ich bin dafür, dass es an den Schulen auch Impfangebote für Jugendliche gibt“, sagt Christian Lindner beim Interview in seinem Bundestagsbüro.
„Ich bin dafür, dass es an den Schulen auch Impfangebote für Jugendliche gibt“, sagt Christian Lindner beim Interview in seinem Bundestagsbüro. © FUNKE Foto Services | Sergej Glanze

Und wenn das Mobilfunknetz ausfällt?

Lindner: In der Lage selbst brauchen wir noch andere Kommunikationsmittel wie Sirenen und Lautsprecher, wenn das Strom- oder Mobilfunknetz ausgefallen sein sollte. Aber es gibt Katastrophen, die sich Stunden oder Tage vorher abzeichnen. Da muss eine digitale Infrastruktur den Behörden zur Verfügung stehen.

Die FDP hat Horst Seehofer als Schuldigen ausgemacht. Ihr Stellvertreter Michel Theurer spricht von einem erheblichen Systemversagen, „für das der Bundesinnenminister Seehofer unmittelbar die persönliche Verantwortung trägt“. Was folgt daraus?

Lindner: Diese Debatte ist nicht abgeschlossen. Sie wird derzeit von Fachpolitikern geführt. Als Parteivorsitzender warte ich eine fundierte Analyse ab, bevor ich Verantwortung zuweise. Wichtiger ist aber, dass wir gemeinsam die Frage klären, ob und wie die Meldungen des EU-Flutwarnsystems früher an die Menschen hätten gelangen können.

Nach der Pandemie und dieser Katastrophe verdichtet sich der Eindruck, dass unser Staat in seinen Kernfunktionen nicht überzeugt. Bei digitaler Bildung und Verwaltung, Infrastruktur, Bundeswehr, Justiz und anderem sind wir nicht auf der Höhe der Zeit. Und das wohlgemerkt, obwohl der Staat von Jahr zu Jahr mehr Geld in der Kasse hat. Wir müssen umsteuern – weg von Umverteilung und Subventionen und hin zu Investitionen in Kernfunktionen.

Die Regierung bereitet eine Soforthilfe von 400 Millionen Euro für die Flutopfer vor. Genügt das?

Lindner: Davon gehe ich zunächst einmal aus. Aber wir müssen den Opfern die Sicherheit geben, dass sie nach der akuten Hilfe nicht allein gelassen werden.

Die Politik muss in dieser Woche das Signal senden, dass es einen Aufbaufonds geben wird, mit dem die Solidargemeinschaft von Bund und Ländern die Regionen vor Ort und die geschädigten Menschen auskömmlich unterstützen wird. Spenden: Wo und wie Sie helfen können

Was bedeutet auskömmlich?

Lindner: Der Aufbaufonds wird - wie nach der Hochwasserkatastrophe 2013 - eine Größenordnung von mehreren Milliarden Euro haben müssen. An den Finanzierungs- und Auszahlungsbedingungen von damals kann man sich orientieren, um schnell handeln zu können.

Haben Sie die Katastrophenregion besucht?

Lindner: Ich war in meinem Wahlkreis in Leichlingen. Ich hatte mich aber bewusst gegen eine Pressebegleitung entschieden. Wer nicht im Krisenmanagement ist, sollte die akute Situation meiden. Meine Aufgabe sehe ich in Berlin, wo wir parlamentarische Vorschläge für die Bundesnothilfe vorbereiten.

Armin Laschet ist mehrfach in dem Flutgebiet gewesen, und er hat gelacht, während der Bundespräsident seine Trauerrede hielt. Finden Sie die Empörung über den Kanzlerkandidaten der Union angemessen?

Lindner: Herr Laschet hat sein Bedauern geäußert. Jetzt können die Menschen das beurteilen. Auch die Führungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit von Frau Baerbock waren Gegenstand von Debatten, so dass sich alle ein Urteil bilden konnten.

Ich rate dazu, jetzt die inhaltlichen Fragen zu besprechen. Vor uns liegen große Aufgaben. Nicht nur der Klimawandel, sondern auch die Erneuerung der wirtschaftlichen Grundlagen unseres Landes. Ohne eine starke Wirtschaft werden uns die Mittel fehlen, um soziale und ökologische Ziele zu erreichen. Mehr zum Thema:Armin Laschet lacht und erntet viel Kritik dafür

Extreme Wetterphänomene wie jetzt im Westen werfen eine beklemmende Frage auf: Haben wir die Chance, eine Klimakatastrophe abzuwenden, schon verpasst?

Lindner: Es gibt zwei Aufgaben. Einerseits gibt es bereits einen Klimawandel, an den wir uns hier anpassen müssen. Vom Hochwasserschutz bis zur Aufforstung anderer Baumarten in den Wäldern.

Andererseits ist die Begrenzung der Erderwärmung eine Menschheitsaufgabe. Dabei kommt Deutschland eine Schlüsselrolle zu. Ich möchte dazu einladen, den Klimaschutz als Teil einer Fortschritts- und Wachstumsagenda neu zu starten.

Haben wir dafür noch die Zeit?

Lindner: Seit den Zeiten des grünen Umweltministers Jürgen Trittin verfolgt Deutschland einen bürokratischen Politikansatz. Neuerdings kommen noch Verbote und Appelle an Verzicht auf Wachstum dazu. Als moralischer Weltmeister werden wir China, Südamerika, Indien oder Afrika für den Klimaschutz nicht begeistern können.

Milliarden Menschen auf der Welt haben nichts, auf das sie verzichten könnten. Wir müssen also Technologie-Weltmeister werden, um wirtschaftliches Vorankommen und eine freiheitliche Lebensweise mit Ressourcenschonung zu vereinbaren.

In praktische Politik übersetzt: Die FDP steht beim Klimaschutz auf der Bremse.

Lindner: Wie kommen Sie darauf?

Zwei Beispiele: Sie sperren sich selbst gegen einfache Maßnahmen wie ein Tempolimit auf Autobahnen. Und Sie wollen den Ausbau erneuerbaren Energien nicht mehr fördern.

Lindner: Unser Verzicht auf unwirksame Symbolmaßnahmen und falsche Subventionen hat einen anderen Hintergrund. Wir stehen nicht auf der Bremse. Wir wollen auf einen anderen Weg steuern, um endlich Fortschritte zu erzielen. Über Symbolmaßnahmen wie ein Tempolimit sollen andere diskutieren, wir konzentrieren uns auf wirklich wirksame Maßnahmen.

Bedeutsam wäre zum Beispiel, wenn wir vor unseren Küsten Wasserstoff-Windparks errichten und die Technologie in die Welt exportieren. RWE und BASF planen das, um ganz konkret den größten Stromverbraucher Deutschlands, den Chemiepark Ludwigshafen, klimaneutral zu machen. Sie fordern keine Subventionen, sondern nur schnelle Planungs- und Genehmigungsverfahren.

Für mich ist das ein Modell für Deutschland. Wenn wir Vorreiter beim Klimaschutz werden wollen, dann müssen wir den Erfindergeist der Wirtschaft mobilisieren statt sie zu schwächen.

Glauben Sie, die Klimaziele lassen sich ganz ohne Verbote erreichen?

Lindner: Mindestens ein Verbot ist nötig: Wir dürfen nicht mehr Kohlendioxid ausstoßen als vereinbart. Wie sich das verbleibende, strikt begrenzte CO2-Budget verteilt, sollten wir weitgehend der Marktwirtschaft überlassen. Wir können jetzt schon CO2-neutral mit dem Verbrennungsmotor unterwegs sein, mit sauberen, synthetischen Kraftstoffen.

Die Orientierung auf Verbote wird kein Modell für die Welt sein. Damit werden wir höchstens bei uns Einsparziele erreichen – nachdem wir unsere wirtschaftliche Substanz, Jobs und soziale Absicherung für Millionen Menschen geopfert haben.

Macht die Corona-Pandemie – die Erfahrung des Lockdowns – den Kampf gegen den Klimawandel leichter oder schwerer?

Lindner: Der Lockdown mit den enormen sozialen und wirtschaftlichen Schäden hat gezeigt, dass wir es so beim Klimaschutz gerade nicht machen können. Ich rate davon ab, den Weg über Freiheitseinschränkungen und Wohlstandsverlust zu gehen.

Vor einigen Wochen habe ich John Kerry getroffen, den Klimabeauftragten der US-Regierung. Er versteht überhaupt nicht, dass wir in Deutschland über politisch verteuerte Spritpreise, Skepsis bei Einfamilienhäusern oder Einschränkungen von Flügen reden. John Kerry sieht in den erneuerbaren Energien den nächsten großen Investitionszyklus der Welt. Von diesem Denken ist Deutschland leider weit entfernt.

Auch in Deutschland hat sich die hoch ansteckende Delta-Variante des Coronavirus durchgesetzt. Wie sollen Bund und Länder auf die sprunghaft steigenden Inzidenzen reagieren?

Lindner: Erstens: Wir müssen Fortschritte beim Impfen erzielen - etwa mit mobilen Impfteams, die spontan auf dem Parkplatz des Supermarkts eine Impfung anbieten.

Zweitens: Wir brauchen eine Infrastruktur für systematische Testungen, insbesondere in den Schulen, auch mehrfach die Woche.

Drittens müssen wir andere Rechtsgrundlagen schaffen: Wir dürfen nicht nur auf die Inzidenz schauen. Die Impfquote, die Positivquote bei den Tests und die Belegung der Krankenhäuser müssen ebenfalls einbezogen werden, wenn es um die Bewertung der Lage und um Schutzmaßnahmen geht.

Steuern wir auf einen weiteren Lockdown zu?

Lindner: Geimpfte müssen die Garantie bekommen, dass sie keinen Lockdown mehr erleben werden. Für sie sind Einschränkungen nicht mehr gerechtfertigt – mit Ausnahme der Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr und in bestimmten öffentlichen Räumen, wo der Impfstatus nicht geprüft werden kann.

Und für die Nicht-Geimpften muss es so viel gesellschaftliche Freiheit wie möglich geben - auch mithilfe von Tests.

Der Staat könnte Geld verlangen für die Tests, um die Impfbereitschaft zu erhöhen.

Lindner: Da gibt es bessere Wege. Meine Sorge ist, dass kostenpflichtige Tests dazu führen, dass weniger oder weniger sorgfältig getestet wird. Wir brauchen aber viele Testes, um Lockdowns oder auch nur Schulschließungen zu verhindern.

Dabei bleibt es?

Lindner: Zu einem späteren Zeitpunkt kann man über den Wechsel von kostenfreien zu kostenpflichtige Corona-Tests nachdenken.

Kann man irgendwann auch über eine Impfpflicht nachdenken - zumindest für Lehr- oder Pflegeberufe?

Lindner: Wir sind die Partei der Selbstbestimmung. Ich werbe für das Impfen, bin auch selbst geimpft, rate aber von einer Impfpflicht ab. Mehr zum Thema: So kämpfen andere EU-Länder gegen die Impfmüdigkeit

Sollten Kinder geimpft werden, um neue Schulschließungen zu vermeiden?

Lindner: Es darf nicht mehr dazu kommen, dass Schulen geschlossen werden. Während der Sommerferien muss die Logistik eingerichtet werden für Lolli- oder Pooltestes sowie für Hygienekonzepte und Luftfilter.

Ich bin dafür, dass es an den Schulen auch Impfangebote für Jugendliche gibt. Das muss man schon jetzt mit mobilen Impfteams in großem Umfang vorbereiten. Am Ende müssen die Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern aber selbst entscheiden, ob sie es wollen.

Die Erwachsenen könnten die Kinder schützen, indem sie auf Reisen quer durch Europa verzichten …

Lindner: Richtig. Nicht nötige Auslandsreisen, insbesondere in Virusvariantengebiete, sollte man in diesem Sommer zurückstellen.

Verreisen Sie noch vor dem Wahlkampf-Endspurt?

Lindner: Nur noch aus dienstlichem Anlass. Und eine Dienstreise nach Großbritannien zu Gesprächen mit Regierungsvertretern habe ich kürzlich vorsorglich abgesagt.

Wird die FDP diesmal regieren?

Lindner: Frau Baerbock und Herr Scholz können nicht sicher sein, dass wir jedes beliebige Angebot annehmen.

Soll das heißen, Grüne und SPD müssen doch nicht alle Hoffnung auf ein Ampelbündnis fahren lassen?

Lindner: Jetzt drehen Sie meinen Satz ins Gegenteil um. Ich habe unterstreichen wollen, dass für uns weiterhin Inhalte zählen. Auf das Wort der FDP ist Verlass, denn wir streben nicht Ministerposten für die eigene Karriere an, sondern Veränderungen in Deutschland. Nach meiner Erwartung wird der Regierungsbildungsauftrag an Armin Laschet und die CDU/CSU gehen.

Die einzig verbliebene Frage ist, ob es Schwarz-Grün wird oder eine Regierung mit Beteiligung der FDP. Anders gesagt, ob Robert Habeck mit seinen Ideen zu Steuererhöhungen und der Aufweichung der Schuldenbremse Verantwortung für die Staatsfinanzen übernimmt oder ein Finanzminister Christian Lindner, der die Schuldenbremse einhalten will, Steuererhöhungen ausschließt und an Entlastungen arbeiten möchte. In Deutschland zahlt niemand zu wenig Steuern - außer vielleicht Amazon und Google.

Also lieber ein weiteres Mal nicht regieren als mit SPD und Grünen regieren? In der Opposition können Sie die Steuerpolitik erst recht nicht bestimmen.

Lindner: Das ist eine fiktive Frage, denn die Union wird nach aller Wahrscheinlichkeit stärkste Kraft. Und grüne Politik umsetzen – das hätten wir vor vier Jahren auch schon mit Frau Merkel gekonnt. Wer unsere Stimmen für die Kanzlerwahl benötigt, muss ein faires Angebot machen.

Welche Bedingungen stellen Sie für eine Regierungsbeteiligung?

Lindner: Uns geht es um Trendwenden in der Sache: Die steuerlichen Belastungen der Bürger müssen eher runter als rauf. Der Bund muss sich stärker für die Modernisierung der Bildung engagieren. Wir brauchen eine marktwirtschaftliche Klimapolitik.

Deutschland muss auch bei der Infrastruktur digitaler werden. Wir brauchen ein weltoffenes und zugleich aber kontrolliertes Einwanderungsrecht. Wir werden Prüfsteine aufstellen, an denen wir die Koalitionsfrage entscheiden.

Bleiben Sie Parteichef, falls die FDP wieder nicht am Kabinettstisch sitzt?

Lindner: Mein Ziel ist, die FDP in Regierungsverantwortung zu führen – und das so bald wie möglich. Aber ich sehe mich mit 42 immer noch am Anfang meiner politischen Tätigkeit.

Sie wollen weitermachen – ganz gleich, wie die Wahl ausgeht?

Lindner: Wir haben erfreulich aussichtsreiche Umfragen. Wir gewinnen tausende neue Mitglieder und stehen vor einem Rekord. Da werde ich nach der Wahl ganz sicher niemanden im Stich lassen.