Berlin. Die Pandemie ist für viele Menschen psychisch so belastend, dass sie einen Therapieplatz brauchen. Doch der ist schwer zu bekommen.

Anna Baumann wusste schon vor der Pandemie, dass es ihr nicht gut geht. Depressionen, Konzentrationsstörungen, Schreckhaftigkeit: Seit Jahren lebt die junge Berlinerin mit den Folgen eines Traumas.

Mal war es schlechter, mal besser, erzählt sie. Bis Corona kam und es plötzlich nur noch schlecht war. Keine Treffen mit Freunden mehr, keine Parties, die Isolation des ersten Lockdowns. „Plötzlich war alles weg, was vorher abgelenkt hat“, sagt Baumann, die eigentlich anders heißt. Lesen Sie auch: Leben mit Long Covid: "Ich bin ein anderer Mensch geworden"

Im Frühjahr 2020 beschließt die 27-Jährige deshalb, sich professionelle Hilfe zu holen. Ein erstes Gespräch ergibt einen Verdacht: Posttraumatische Belastungsstörung. Doch weil die Therapeutin darauf nicht spezialisiert ist, schickt sie Baumann weiter. Es ist der Beginn einer Odyssee. Denn mit Corona prallt eine Welle von Hilfesuchenden auf ein System, das vorher schon an der Kapazitätsgrenze war.

Mehr als 50 Anfragen hat sie in dem Jahr seit diesem ersten Gespräch gestellt, erzählt Baumann, meist per Telefon, selten per Email. Ebenso viele negative Antworten hat sie bekommen. Adressen von Ansprechpartnern gibt es genug.

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Doch Termine hat kaum jemand. „Ich habe noch nie so nette, verständnisvolle Absagen bekommen wie von Traumatherapeuten und -therapeutinnen“, sagt Baumann und klingt fast amüsiert. „Einige haben mir gesagt, die Warteliste ist ein Jahr lang, länger machen sie nicht.“ Auch interessant: Impfschutz: So schnell wirken Biontech, Astrazeneca & Co.

Corona: Die Erkrankung kann psychisch traumatisieren

So wie ihr geht es im Moment sehr vielen Menschen in Deutschland. Schon vor Corona war es nicht einfach, einen Platz für eine psychotherapeutische Behandlung zu bekommen. Doch die Pandemie hat die Zahl der Menschen in psychischen Notlagen deutlich erhöht.

Vor allem Depressionen, Angststörungen und Traumafolgestörungen würden zunehmen, sagt Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK). Mehr zum Thema: Drosten macht sich keine Sorgen wegen indischer Mutation

„Viele Patientinnen und Patienten, die von Covid betroffen waren, haben die Erkrankung als sehr bedrohlich und damit traumatisierend erlebt“, sagt er. Dazu kommen neurologische Folgeschäden von Covid, die neuropsychologisch behandelt werden müssten – auch das bindet Kapazitäten. Auch interessant: Flut an Fake-Impfpässen: So leicht sind sie zu fälschen

Psychotherapie: 40 Prozent mehr Anfragen seit Corona

Zahlen der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung lassen erahnen, wie groß der Bedarf ist. Eine Umfrage unter den Mitgliedern der Vereinigung ergab, dass im Januar 2021 die Zahl der Anfragen 40 Prozent höher war als im Januar 2020. Kinder- und Jugendtherapeuten meldeten sogar einen Anstieg um 60 Prozent.

Entsprechend lange dauert es, bis die Anfragenden Hilfe bekommen: Nur jeder zehnte, heißt es in der Umfrage, bekomme innerhalb eines Monats einen Behandlungsplatz. Bei der Hälfte klappt es innerhalb eines halben Jahres. Fast 40 Prozent der Anfragenden warten länger als sechs Monate.

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    Es ist kostbare Zeit, die für die Betroffenen verloren geht. Gerade bei Menschen mit Depressionen, sagt Munz, könne sich in diesen Monaten das Gefühl der Hilflosigkeit verstärken, und die innere Stimme lauter werden, die sagt, dass einem sowieso niemand helfen kann. Lesen Sie hier: Corona-Pandemie: Darf man überhaupt Impfneid fühlen?

    Und viele hören irgendwann auf, es zu versuchen. „Es ist so anstrengend, psychisch und auch körperlich“, sagt auch Anna Baumann. „Man muss ständig austarieren, was erträglicher ist: Nichts zu machen oder sich da zu verkämpfen?“

    Therapieplätze waren schon vor der Pandemie knapp

    Die Hilfesuchenden treffen auf ein System, das schon vor Corona ausgelastet war. Schon 2019 warteten nach einer Auswertung der BPtK 40 Prozent der Patientinnen und Patienten zwischen drei und neun Monate auf eine Behandlung.

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    Dabei gibt es keine Knappheit von Therapeuten. Das Nadelöhr sind die sogenannten Kassensitze – das sind jene Praxen, die die Behandlung direkt mit den gesetzlichen Krankenkassen abrechnen können. Ihre Zahl wird festgelegt vom Gemeinsamen Bundesausschuss, dem Gremium, in dem sich das Gesundheitswesen selbst verwaltet. Doch am tatsächlichen Bedarf plane der Ausschuss seit langem vorbei, kritisiert Munz.

    Wenn Depressionen zunehmen, können Vereine und Selbsthilfegruppen eine Lösung sein. (Symbolbild)
    Wenn Depressionen zunehmen, können Vereine und Selbsthilfegruppen eine Lösung sein. (Symbolbild) © dpa | Marijan Murat

    Er wirft den Kassen eine Blockadehaltung vor: „Hart formuliert kann man sagen: Wenn es keine Therapieplätze gibt, muss man als Kasse eben auch keine Therapie zahlen“, sagt er. Rechtlich gibt es zwar die Möglichkeit, eine Behandlung bei einem Therapeuten ohne Kassensitz zunächst privat zu zahlen, und die Kosten dann von der Kasse übernehmen zu lassen. Doch viele Kassen, sagt Munz, würden von dieser Möglichkeit nur sehr sparsam Gebrauch machen.

    Therapeuten: „Es ist wirklich eine Notsituation“

    Die Bundespsychotherapeutenkammer fordert deshalb, diese Möglichkeit jetzt unkompliziert allen zugänglich zu machen. „Damit könnte man schnell Druck aus dem System lassen“, sagt Munz. „Es ist wirklich eine Notsituation.“ Langfristig müsste die Zahl der Kassensitze erhöht werden.

    Dafür plädieren auch die Grünen. An vielen Orten, vor allem auf dem Land, seien die Wartezeiten „unzumutbar“, sagt Kirsten Kappert-Gonther, Fraktionssprecherin für Gesundheitsförderung. Die Berechnungsgrundlage gehe völlig am Bedarf vorbei. Es sei daher „dringend angezeigt“, zusätzliche Kassensitze zu schaffen.

    Kurzfristig fordert auch sie mehr Flexibilität bei der Kostenübernahme: Die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen sollten verpflichtet werden, gesetzlich Versicherte einen Behandlungsplatz in einer Privatpraxis zu vermitteln, wenn sie innerhalb von vier Wochen bei kassenzugelassenen Therapeuten und Therapeutinnen nicht erfolgreich waren, sagt die Abgeordnete.

    Anna Baumann kann nach einem Jahr Suche nun einen Teilerfolg verzeichnen: Bei einem Therapiezentrum, an das sie sich im März gewandt hatte, hatte sie Ende April einen Termin für ein Telefonat – um ein Erstgespräch im Mai auszumachen. Falls daraus nichts wird, hat sie noch eine weitere Liste von Adressen von Praxen.

    Aufgeben will sie nicht. Doch die Suche war ernüchternd. Auch Freunden und Freundinnen gehe es in der Pandemie psychisch schlecht, erzählt sie. „Aber ich weiß nicht, ob ich ihnen mit meinen Erfahrungen wirklich raten könnte, sich professionelle Hilfe zu suchen.“