Brüssel. Bomben, Folter, Kidnapping: Das organisierte Verbrechen wird brutaler und gefährlicher, warnt Europol. Auch Corona zeigt Auswirkungen.

Dieser Fund hat Fahnder in ganz Europa alarmiert. Als Spezialkräfte der Polizei das Lagerhaus stürmen, entdecken sie sieben Schiffscontainer, die in schallisolierte Zellen mit Kameraüberwachung umgebaut wurden. Sechs Zellen sind für entführte Gefangene vorgesehen, eine siebte soll als Folterkammer dienen: Ein Zahnarztstuhl mit Gurten an Armlehnen und Fußende steht bereit, dazu Bohrer, Heckenschere, Skalpelle, Fingerklemmen, Zangen und Vorrichtungen für das Waterboarding, wie das Fast-Ertränken als Foltermethode genannt wird.

„Die Kriminellen hatten Fotos von den Folterinstrumenten geteilt“, so beschreibt ein am Montag veröffentlichter Report der EU-Polizeibehörde Europol zur Organisierten Kriminalität die Szenerie. „Die bevorstehenden Entführungen schienen mit großer Präzision vorbereitet zu sein.“ Inzwischen sind Ermittler sicher, den Fall geklärt zu haben: In dem Versteck im niederländischen Wouwse Plantage nahe der belgischen Grenze sollte demnach ein Streit im Drogengeschäft in neuer Brutalität fortgesetzt werden.

Laut Anklage der Staatsanwaltschaft in Amsterdam soll Drogenkönig Roger P. mit Komplizen geplant haben, mindestens sieben Menschen zu entführen, zu quälen und zu töten – Rivalen und ihre Familien, sogar Kinder.

Organisierte Kriminalität: Gewalt nimmt zu

Hintergrund ist demnach ein Streit um verschwundene Millionen aus einem Drogengeschäft. Für Europol und die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson, die den Bericht gemeinsam vorstellten, ist der Grusel-Plan eindrucksvolles Beispiel für eine alarmierende Entwicklung: Die Gewalt in der Organisierten Kriminalität (OK) in Europa nimmt zu – in Fallzahlen und Brutalität, wie es in dem neuen Europol-Report heißt.

„Die Art der Gewalt scheint sich geändert zu haben: Immer mehr kriminelle Netzwerke setzen Gewalt offensiver ein.“ Sie nutzten sie unterschiedslos und wählten Opfer ohne Rücksicht auf ihre Beteiligung oder ihre Stellung, oftmals nähmen sie Gefahren für unbeteiligte Zuschauer in Kauf.

Corona: Pandemie schafft womöglich ideale Bedingungen für organisierte Kriminalität

Der Report enthält zugleich drastische Warnungen: Nie sei die Bedrohung durch Organisierte Kriminalität für Europa und seine Bürger so groß gewesen wie heute. Die Corona-Pandemie und ihre möglichen wirtschaftlichen Auswirkungen drohten ideale Bedingungen für die Ausbreitung der Verbrecher-Organisationen zu werden.

Als Vorreiter der Gewaltwelle gilt, so haben es OK-Experten bei einer Europol-Konferenz berichtet, Schweden, wo rivalisierende Banden in Stockholm, Malmö oder Göteborg seit längerem mit Schießereien auf offener Straße und Handgranaten-Anschlägen um die Vorherrschaft in der Unterwelt kämpfen.

„Wir haben Krieg, die Lage ist dramatisch“, klagte der schwedische Kriminalkommissar Jale Poljarevius vor seinen europäischen Kollegen. „Sie kommen schwer bewaffnet, kämpfen wie Special Forces der Armee, sie sind sehr, sehr gefährlich. Das sind Verbrechen, die wir nie zuvor gesehen haben.“

Kokain-Boom führt zu mehr Morden, Bombenanschlägen, Entführungen

Europol-Experten sahen früh voraus, dass Schweden nur das Experimentierfeld für Verbrecher-Banden in Europa ist. Inzwischen hat sich zum Beispiel in und um die großen europäischen Hafenstädte Antwerpen (Belgien) und Rotterdam (Niederlande) ein brutaler Machtkampf rivalisierender Drogengangs entwickelt, bei dem es unter anderem um Kokainimporte aus Südamerika geht, die für den Mark im Europa vor allem hier abgewickelt werden; in Antwerpen wurden innerhalb der letzten sechs Wochen 27 Tonnen Kokain sichergestellt.

Die Täter schießen nicht nur, sie werfen Bomben, Granaten oder Molotowcocktails, schrecken auch vor der Entführung von Kindern nicht zurück. In Rotterdam beschlagnahmte die Polizei eine Todesliste mit Namen von 18 Kriminellen, die hingerichtet werden sollten.

Gewalt sei häufig ein Zeichen für wachsenden Wettbewerb zwischen Banden, etwa die Kontrolle von Drogenvertriebsnetzen oder Territorien, schreiben die Europol-Fachleute. Immer öfter würden Kriminelle für Gewalttaten eigens weitere Täter über das Darknet anheuern, die von Drohungen und Übergriffen bis zu Entführung, Folter, Verstümmelung und Mord alle „Dienstleistungen“ im Angebot hätten.

Eine Folge: „Gewalt kann bei traditionell gewaltfreien kriminellen Aktivitäten wie Verbrauchsteuerbetrug oder Cyberkriminalität häufiger auftreten.“ Besonders aber kommt sie im Drogenmilieu vor, in dem rund 40 Prozent aller Verbrecherbanden involviert seien.

Europol ist besorgt über Folgen der Organisierten Kriminalität für tägliches Leben

Für die Kriminalexperten von Europol ist es nicht die einzige Sorge. Die Organisierte Kriminalität in Europa sei ein „dynamischer und anpassungsfähiger Gegner“, sagt Europol-Direktorin Catherine De Bolle. Kriminelle Strukturen seien fließender und flexibler als bisher angenommen. Korruption und Missbrauch legaler Geschäftsstrukturen seien Schlüsselmerkmale.

„Ich bin besorgt über die Auswirkungen der schweren und organisierten Kriminalität auf das tägliche Leben der Europäer, das Wachstum unserer Wirtschaft sowie die Stärke und Widerstandsfähigkeit unserer staatlichen Institutionen. Ich bin auch besorgt über das Potenzial dieser Phänomene, die Rechtsstaatlichkeit zu untergraben.“

Europol geht von rund 5000 OK-Gruppen in Europa aus. 80 Prozent der Netzwerke seien in Drogenhandel, Eigentumskriminalität (mit einer Million bandenmäßigen Einbrüchen jährlich), Betrug und Migrantenschmuggel verwickelt. Der wichtigste Zweig bleibt der Drogenhandel. Das Geschäft mit Kokain boomt, aber zugleich bauen die Banden die Produktion von synthetischen Drogen in Europa aus – auch für den Weltmarkt.

Cyberkriminalität nehme ebenso zu wie der organisierte sexuelle Missbrauch von Kindern im Internet. Und: Kriminelle hätten inzwischen ein paralleles Finanzsystem im Untergrund etabliert, um die Milliardengewinne zu waschen. Das Ausmaß der Geldwäsche sei bislang unterschätzt worden. Fast 60 Prozent der Verbrechergruppen setzten bei ihren kriminellen Aktivitäten auch auf Korruption.

Wird Corona zum Wachstumsprogramm für Verbrecherbanden?

Zum Beispiel auch im Drogenkrieg. In Antwerpen klagt die Polizei, kriminelles Geld aus dem Drogenhandel habe die Stadt infiltriert. Drei Polizeibeamte, ein pensionierter Polizeichef und ein Anwalt wurden unter dem Verdacht verhaftet, Teil eines kriminellen Netzwerks zum Kokainschmuggel zu sein, mehrere korrupte Zollbeamte sind schon verurteilt. Mehr als 80 Prozent der kriminellen Netzwerke in Europa nutzen das legale Geschäftsstrukturen für ihre Aktivitäten, warnt der Report. Eine neue Herausforderung ist die Corona-Pandemie. Das organisierte Verbrechen habe sich schnell angepasst, analysiert Europol.

Die unmittelbaren Auswirkungen der Corona-Krise seien am deutlichsten in der Fälschung und Verbreitung von minderwertigen Waren, Cyberkriminalität, organisierter Eigentumskriminalität und Betrug zu sehen.

Eine Sorge der Experten: Eine mögliche schwere Rezession nach der Corona-Pandemie werde die OK in naher Zukunft stärken. Europol-Chefin Bolle hatte kürzlich im Interview mit unserer Redaktion gesagt: „Auf längere Sicht ist zu befürchten, dass der wirtschaftliche Abschwung zu einem Aufblühen der OrganisiertenKriminalität in Europa führt“.“ Europol müsse jetzt zusammen mit den nationalen Polizeibehörden und anderen EU-Einrichtungen verhindern, dass solche Gruppierungen während der Pandemie auch auf die legale Wirtschaft übergreifen könnten. Auch interessant: So verdienen Mafia-Clans an der Corona-Pandemie

Die Angeklagten schweigen oder lügen, sagt der Staatsanwalt

Die wachsende Gewalt ist für die Ermittler dabei aber ein zusätzliches Hindernis. OK-Gruppen wenden Gewalt gegen inhaftierte Mitglieder oder deren Familien an, um sie einzuschüchtern und zu verhindern, dass sie Informationen preisgeben, so der Report. Auch Zeugen, Anwälte und Strafverfolger würden Opfer.

Im Fall der geplanten Entführungen in den Niederlanden verhaftete die Polizei zehn Verdächtige, seit kurzem stehen sie vor Gericht. Ermittler hatten vor dem Zugriff ihre verschlüsselten Gespräche über die Kommunikations-App EncroChat verfolgt. Die späteren Vernehmungen brachten dagegen wenig Ergebnisse, sagte der Staatsanwalt vor Gericht. Die Angeklagten hätten entweder nur geschwiegen oder nachweislich gelogen. Das Ganze, meinte einer von ihnen, sei doch nur „bloßes Theater“ gewesen.