Brüssel. Gewalt, Internethandel, Kurierservice: Die Corona-Krise verändert den Rauschgiftmarkt in Europa. Experten und Behörden sind alarmiert.

Die Fahnder trauten ihren Augen nicht. Die Kokain-Dealer hatten ihr Geschäft exakt wie einen Pizza-Service aufgezogen: Wenn einer der rund 2000 Kunden nach dem Stoff verlangte, rief er einfach im speziellen Callcenter an. Die Boten brachten das Rauschgift dann per Motorrad an die Haustür oder bei Bedarf auch ins Büro – mit dem Versprechen einer „garantierten Lieferung innerhalb von 20 Minuten“.

Als die spanische Polizei vor wenigen Tagen die „Kokain-Hotline-Gang“ in Madrid hochnahm, verhaftete sie 28 Tatverdächtige, beschlagnahmte mehrere Millionen Euro und 20 Motorräder. Drogen-Experten in Europa sind alarmiert. Denn der neue Absatzweg der Rauschgift-Verbrecher macht sich mit der Corona-Krise in ganz Europa breit, auch in Deutschland. Lesen Sie auch: BKA: Kriminalität verlagert sich in den digitalen Raum

„Die Nach-Hause-Lieferung von Drogen hat deutlich zugenommen“, sagt Andrew Cunningham, Abteilungsleiter der EU-Drogenbehörde EMCDDA, unserer Redaktion. Und: „Dieser Lieferservice wird nach der Pandemie bleiben.“

Es ist nicht das einzige Problem, das Drogenexperten und Polizeibehörden seit Corona beschäftigt. Die Pandemie hat massive Spuren auf dem Drogenmarkt in Europa hinterlassen: mehr Gewalt, eine Verlagerung ins Internet – und zum Teil droht nach Ende des Lockdowns nun eine Drogenschwemme.

Konsum von Partydrogen zurückgegangen

Die brisanten Entwicklungen: Als grober Trend zeichnet sich ab, dass während der Ausgangssperren vor allem der Gebrauch von Partydrogen – Kokain und synthetische, im Labor hergestellte Drogen wie Ecstasy oder Amphetamin – vorübergehend zurückgegangen ist. Darauf deuten auch Abwasseranalysen unter anderem in Amsterdam hin, wo entsprechende Spuren plötzlich nur noch halb so stark messbar sind wie sonst.

Während des Lockdowns habe es weniger Gelegenheiten zum Konsum gegeben, erläuterte EMCDDA-Direktor Alexis Goosdeel vor Abgeordneten des EU-Parlaments.

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Cannabis-Verbrauch angestiegen

Dagegen sei vielerorts der Cannabis-Verbrauch angestiegen; ein Teil der Konsumenten habe sich offenbar vor den Ausgangssperren Vorräte angelegt. In einer gemeinsamen Analyse der Drogenbehörde und Europol zum Corona-Einfluss auf den Drogenhandel wird darauf verwiesen, dass dort, wo Rauschgift noch erhältlich war, die Dealer oft auch höhere Preise verlangten.

Die internationale Polizeibehörde Interpol hat bereits eine Alarmmeldung an die Mitgliedstaaten geschickt und gewarnt, dass Drogenhändler seit der Corona-Krise die „Nach-Hause-Lieferung“ nutzten. Demnach tarnen sich die Drogenkuriere oftmals auch als normale Essenslieferdienste, die während des Lockdowns mehr als sonst unterwegs waren. Lesen Sie auch: K.o.-Tropfen: Partydroge „G“ – So gefährlich ist der Konsum

Kooperationen mit Restaurants und Lieferdiensten

Besonders besorgt die Fahnder die Kooperation der Kriminellen mit Restaurants und Lieferdiensten: Die betreiben mitunter den Transport von Kokain, Ecstasy oder Cannabis als Zuschussgeschäft zum Essensservice – die Boten wissen zum Teil gar nicht, was sie neben Pizza oder Pasta noch ausliefern.

Einzelfälle waren schon vor der Pandemie bekannt, etwa in Berlin: Anfang des Jahres nahm die Polizei dort neun Männer fest, die mit „Kokain-Taxis“ Kunden mit Rauschgift beliefert haben sollen. Seit Corona häufen sich aber nicht nur die Hinweise aus ganz Europa. Die Experten sind sich auch sicher, dass der Trend „dauerhaft“ ist.

Die Polizei nimmt nach einer Drogenrazzia in mehreren Wohnungen und einem Cafés in Brühl einen Verdächtigen fest.
Die Polizei nimmt nach einer Drogenrazzia in mehreren Wohnungen und einem Cafés in Brühl einen Verdächtigen fest. © dpa | David Young

Neue Drogenschwemme

Während der Konsum von Kokain, Ecstasy und anderen Partydrogen abnahm, ging in Europa die Lieferung und Produktion ohne größere Störungen weiter, so der Bericht von Drogenbehörde und Europol. Synthetische Drogen werden ohnehin in Europa hergestellt, vor allem in den Niederlanden, Belgien und Tschechien.

Kokain wurde offenbar weiter per Schiff aus Lateinamerika angeliefert, entsprechend konnten Fahnder in den letzten Monaten immer wieder auch größere Mengen sicherstellen. In der EU-Drogenagentur gibt es laut Sonderanalyse die Befürchtung, dass Dealer angesichts der angelegten Vorräte und des härter gewordenen Konkurrenzkampfs versuchen, Ecstasy und andere synthetische Drogen mit „Dumping“-Preisen zu verkaufen.

Festivals abgesagt, Clubs geschlossen - noch

„Noch sind Festivals abgesagt und die meisten Clubs geschlossen“, sagt Cunningham. „Aber wenn die Beschränkungen aufgehoben sind, wird eine Menge dieser Drogen verfügbar sein. Das macht uns Sorgen.“

Dasselbe gelte für Kokain: „Es kommt immer noch in großen Mengen nach Europa.“ Die Drogenbeobachter sprechen von einer „Herausforderung für die nächsten Monate“. Denn der Kundenkreis ist relativ groß: Der Konsum von Kokain und synthetischen Drogen wie eben Ecstasy, Speed oder LSD hat in Europa seit einigen Jahren massiv zugenommen. Kokain ist die am häufigsten verwendete illegale Aufputschdroge.

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    Marktplätze im Internet und im Darknet

    Die Ausgangsbeschränkungen wegen Corona haben den Drogenhandel weiter ins Internet verlagert. Die gemeinsame Analyse von EMCDDA und Europol kommt zum Ergebnis, dass sowohl das Internet als auch das Darknet eine wichtigere Rolle spielen, der Drogenkauf auf der Straße dagegen abnimmt.

    Das könne von Dauer sein, so der Report. Es verstärkt eine Entwicklung, die das Bundeskriminalamt (BKA) seit Längerem beobachtet: Schon vor Corona wurde immer mehr Rauschgift im Internet verkauft und mit der Post versandt, so die Wiesbadener Behörde.

    Nach erfolgreichen BKA-Ermittlungen steht in Gießen demnächst eine Gruppe von Cyberkriminellen vor Gericht, die unter dem Namen „Chemical Revolution“ Drogen wie Kokain, Heroin, Amphetamin, Ecstasy und Cannabis verkauft hatte. Die elf Männer sollen den größten Rauschgift-Onlinehandel Deutschlands aufgezogen haben. Das Rauschgift kam meist per Post oder über Packstationen zum Kunden.

    Mehr Gewalt zwischen rivalisierenden Händlern

    Schwere Unruhen im französischen Dijon Mitte Juni haben Drogenfahnder in Europa aufhorchen lassen. Tagelang lieferten sich Gruppen von Tschetschenen und Nordafrikanern Straßenschlachten, erst Polizei-Sondereinheiten aus Paris brachten die Lage unter Kontrolle. Hintergrund war offenbar ein Streit zwischen rivalisierenden Drogenhändlern.

    „Wir haben Szenen wie in Lateinamerika gesehen“, heißt es bei der EU-Drogenbehörde. Dort war niemand überrascht: Zunehmende Kämpfe zwischen Drogenbanden werden zum Beispiel auch aus den Niederlanden oder Schweden gemeldet.

    Weil der Drogenmarkt durch Corona unsicherer geworden ist, sehen sich die Kriminellen unter Druck. „Corona bringt Unsicherheit und Instabilität in die Märkte“, sagt Cunningham. „Das führt zu Gewalt.“