Brüssel/Den Haag. Banden breiten sich europaweit aus. Europol warnt: Die organisierte Kriminalität ist eine größere Bedrohung als der Terrorismus.
Das organisierte Verbrechen in Europa hat viele Gesichter, dieses ist besonders abstoßend: Mit Handgranaten-Anschlägen und tödlichen Schießereien auf offener Straße kämpfen Banden in Schweden in bislang ungekannter Brutalität um die Vorherrschaft in der Unterwelt. „Wir haben Krieg, die Lage ist dramatisch“, klagt Jale Poljarevius von der schwedischen Nationalpolizei.
2018 seien fast 40 Menschen bei den Schießereien zwischen Banden ums Leben gekommen, dieses Jahr zählt die Polizei schon zwölf Tote und zwölf Verletzte, 47 Explosionen. „Sie kommen schwer bewaffnet, kämpfen wie Special Forces der Armee, sie sind sehr, sehr gefährlich“, beschreibt Kriminalkommissar Poljarevius die Gewaltserie vor allem in Stockholm, Malmö, Göteborg. „Das sind Verbrechen, die wir nie zuvor gesehen haben.“
Zahl der Banden stark gestiegen
Die Täter seien oft sehr jung, die Waffen stammen vorwiegend vom Balkan – und die Gangs mit rund 18.000 Mitgliedern breiteten sich tief in der Gesellschaft aus. Ihre Verbindungen sind international.
Die Gewaltserie in Schweden ist für Polizeiexperten in Europa ungewöhnlich, der Trend nicht. „Schweden ist das Labor für Experimente der organisierten Kriminalität in Europa“, sagt Jari Liukku, der bei der EU-Polizeibehörde Europol in Den Haag die Einheit für diesen Verbrechensbereich leitet. „Die Gewalt der organisierten Kriminalität nimmt zu“, sagt Liukku.
Und das Ausmaß auch. 2017 gab Europol an, die Zahl der international agierenden Banden in Europa sei binnen vier Jahren um fast ein Drittel auf 5000 gestiegen. Jetzt berichtet OK-Fahnder Liukku: „Das Wachstum geht weiter.“
Innere Sicherheit stärker gefährdet als durch Terrorismus
Offizielle neue Daten gibt es noch nicht. Aber inzwischen müsse von 7000 bis 7500 Verbrecherbanden in Europa ausgegangen werden, hieß es unter Experten bei einer Konferenz hochrangiger Polizeibeamter aus der EU im Hauptquartier von Europol. Auch wenn womöglich ein Teil des Zuwachses damit zu erklären ist, das durch bessere Ermittlungsarbeit mehr und kleinere, flexible Netzwerke enttarnt werden, sind die Sicherheitsbehörden vom Wachstum der Verbrechergruppen alarmiert: „Die organisierte Kriminalität ist das größte Risiko für die innere Sicherheit Europas – größer als der Terrorismus“, sagt der Europol-Beamte Liukku.
Europa habe sich in den vergangenen Jahren mehr um Migration und Terrorismus gekümmert, erklärt Europol-Vizedirektor Wil van Gemert, „aber die organisierte Kriminalität hat nie aufgehört“. Es gibt nicht nur mehr Banden, sondern auch sehr unterschiedliche Formationen, weil sich die Kriminellen mitunter in losen, flexiblen Netzwerken zusammentun.
„Die organisierte Kriminalität diversifiziert sich ähnlich wie die Wirtschaft“, sagen Ermittler.
60 Prozent der Täter sind Europäer
Der Drogenhandel ist mit einem Anteil von einem Drittel immer noch das wichtigste Geschäftsfeld der Verbrechernetzwerke, aber auch Menschenschmuggel, Raub, Datendiebstahl und andere Formen der Cyberkriminalität sowie der Waffenhandel tragen zum jährlichen Profit von mindestens 110 Milliarden Euro in Europa bei.
Die Milliardengewinne werden in legalen Unternehmen gewaschen, so infiltriere das organisierte Verbrechen die Wirtschaft. Europol beobachtet vor allem Aktivitäten der italienischen Mafia, Gruppen von Albanern und Osteuropäern sowie von Rockerbanden, deren Einfluss in der kriminellen Szene Deutschlands nach Einschätzung des Bundeskriminalamtes (BKA) „immer wichtiger“ wird. Den Verbrechernetzwerken gehören europaweit Kriminelle aus 180 Nationen an, aber 60 Prozent der Täter sind Europäer.
Italienische Mafia besonders stark
Besonders gefährlich bleibt die italienische Mafia, deren Radius nach Einschätzung von Fahndern „exponentiell“ wächst. Filippo Spiezia, Vizepräsident der EU-Justizbehörde Eurojust, warnt: „Die Ausbreitung der Mafia ist keine Theorie, sie passiert.“ Man könne es nur lange übersehen: „Denn die Mafia ist leise.“ Sie vermeide sichtbare Gewalt – die Mafiamorde 2007 in Duisburg, als wegen einer Familienfehde sechs Menschen vor einem Restaurant erschossen wurden, gelten als Ausnahme.
Die kalabrische ’Ndrangheta, die Experten als gefährlichste der Mafiaorganisationen einstufen, investiere weiter in EU-Staaten, vor allem in Osteuropa, sagt der Direktor des italienischen Anti-Mafia-Kriminalamtes DIA, Giuseppe Governale. Er nennt als wichtige Zielländer Malta, Slowakei, Bulgarien und Rumänien – in drei dieser Länder seien in jüngster Zeit Journalisten ermordet worden, die über die Mafia recherchiert hätten. Die ’Ndrangheta sei auch in Deutschland und Belgien aktiv. „Durch Korruption und Gewalt dringen sie tief in die Gesellschaft ein und werden immer größer und einflussreicher“, berichtet der DIA-Chef.
„Kampf gegen die Mafia muss Priorität haben.“
Ein wichtiges Geschäftsfeld ist der Schmuggel illegaler Migranten geworden: „Mit Migranten machen sie heute mehr Geld als mit Drogen“, sagt der Mafiajäger. Von den Zahlungen des Staates an Migranten kassiere in Italien in vielen Fällen einen Teil die Mafia. Auch Europol warnt, der Migrantenschmuggel sei hochprofitabel, einige Verbrecherorganisationen hätten ihr Geschäftsfeld deshalb erweitert.
DIA-Chef Governale fordert: „Der Kampf gegen die Mafia muss Priorität für alle EU-Staaten haben.“ Doch es gibt auch Erfolge. Der europaweit koordinierte Schlag gegen die ’Ndrangheta im Dezember 2018, bei dem allein in Nordrhein-Westfalen und Bayern 14 mutmaßliche Mafiamitglieder festgenommen wurden, sei dank gelungener Infiltration „eine der erfolgreichsten Aktionen“ gewesen, lobt die EU-Behörde Eurojust. Einer der mutmaßlichen Haupttäter ging in Pulheim ins Netz. Der Betreiber einer Osteria soll laut Polizei am Kokainhandel beteiligt gewesen sein. Insgesamt wurden europaweit rund 90 Verdächtige festgenommen.
Mehr Zusammenarbeit nötig
Der Einsatz zeigt, wie wichtig umfassende Zusammenarbeit ist. Aber nicht nur die vom Bandenkrieg geplagte schwedische Polizei drängt: „Wir brauchen mehr Kooperation.“ Europol fordert zudem neue Ansätze im Kampf gegen das organisierte Verbrechen, auch einen gemeinsamen Aktionsplan der EU-Staaten. Es brauche veränderte Prioritäten, meint Liukku. In den Fokus müssten vor allem die Führungsleute der Banden und ihre Vermögen rücken.
Obwohl sich die Beschlagnahme der Vermögen als besonders wirksam erwiesen habe, werde in Europa bislang nur ein Prozent der in diesem Bereich erzielten Gewinne konfisziert. In Deutschland konnten Ermittler nach Angaben des Bundeskriminalamtes zuletzt immerhin rund 17 Prozent der Erträge zumindest vorläufig sichern. Aber es werde wegen „Verschleierungsmaßnahmen der Gruppierungen“ immer schwieriger, Vermögenswerte aufzudecken, berichtet das BKA.
Auch sonst bleiben die Hindernisse groß. So nahm das österreichische Bundeskriminalamt in der „Operation Cleopatra“ eine internationale Bande hoch, die im Drogenhandel aktiv war. Über 100 Telefone waren überwacht worden. Die Bandenmitglieder unterhielten sich in 16 Sprachen, von Deutsch und Türkisch bis zu Dari oder Urdu. Allein die Übersetzungskosten während der Ermittlungen, so klagen die Kriminalisten, betrugen „mehr als 100.000 Euro“.
(von Christian Kerl)