Berlin. Der Teil-Lockdown ist beschlossen, doch die Diskussion darüber geht weiter. Mehrere Wissenschaftler zweifeln an den Maßnahmen. Zurecht?
- Ab kommenden Montag werden zahlreiche Geschäfte in Deutschland wegen den steigenden Corona-Zahlen in Deutschland geschlossen
- Ob die Maßnahme etwas bringt, um die Corona-Zahlen sinken zu lassen, darüber gibt es allerdings Zweifel
- So kritisieren einige Virologen die Entscheidung, Christian Drosten etwa hält die Maßnahme für sinnvoll und geboten
- Hendrik Streeck kritisiert dagegen, „dass der Schutz der Risikogruppe zu kurz kommt“
Die Forscher und Mediziner in Deutschland sind uneins über den am Mittwoch von Bund und Ländern beschlossenen Teil-Lockdown. Anders als der Berliner Virologe Christian Drosten von der Charité, der einen temporären Lockdown befürwortet, äußern sich etwa sein Bonner Kollege Hendrik Streeck und der Hamburger Virologe Jonas Schmidt-Chanasit.
Streeck ist Direktor des Institut für Virologie an der Uniklinik in Bonn und Macher der viel beachteten Corona-Studie in Gangelt im Kreis Heinsberg. Am Donnerstag hat er auf Twitter einen Beitrag retweetet, dem zufolge die Regierungsbeschlüsse gleich auf mehrere Fragen keine Antworten geliefert hätten. Lesen Sie hier: Lockdown ab 2. November – Das sind die neuen Corona-Regeln.
„Wie sieht Merkels Langfrist-Strategie aus? Was passiert, wenn wenige Wochen nach dem Teil-Lockdown die Zahlen wieder ansteigen? Wie kommt man durch den Rest des Winters und durch 2021, solange der Großteil der Bevölkerung nicht geimpft ist?“, so der ZDF-Hauptstadtkorrespondent Florian Neuhann in dem von Streeck geteilten Twitter-Beitrag.
Streeck: Corona-Schutz der Risikogruppe kommt zu kurz
Am Mittwoch schon hatte der Bonner Virologe kritisierte, „dass der Schutz der Risikogruppe zu kurz kommt“. Vorkehrungen und Tests in Pflegeheimen und Kliniken seien nicht systematisch genug. Zudem müsse auch für Menschen der Risikogruppen, die zu Hause leben, Schutz etabliert werden – etwa mit Masken und Tests, um Besuch bekommen zu können. Lesen Sie auch: So erklärt Kanzlerin Merkel den zweiten Corona-Lockdown
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Auch der Virologe Schmidt-Chanasit vom Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin sagte am Mittwochabend in den ARD-„Tagesthemen“, dass er den Teil-Lockdown in mancher Hinsicht für überzogen halte. Er und einige seiner Kollegen seien nicht gegen alle Maßnahmen, „aber bei bestimmten Maßnahmen stellt sich einfach die Frage der Verhältnismäßigkeit und ob sie auch zielgerichtet sind und das bezwecken, was wir eigentlich erreichen wollen – also eine Stabilisierung der Lage“.
Schmidt-Chanasit: „Es gibt hier keine Blaupause“
Der Hamburger Wissenschaftler warnte dennoch davor, dass sich die Situation in der Pandemie unkontrolliert verschlechtern könne. Die Bevölkerung müsse sich an Abstandsregeln halten, Masken trage und sich an Hygienevorschriften halten, so der Wissenschaftler. Den richtigen Weg aus der Corona-Krise kenne derzeit jedoch keiner, „es gibt hier keine Blaupause“, so Schmidt-Chanasit. Umso wichtiger sei es, nun ein langfristiges Konzept zu entwickeln.
Zudem müssten die Zielgruppen noch besser erreicht werden, bei denen die Infektionen stattgefunden haben, sagte Schmidt-Chanasit. „Da kommen wir mit Verboten auch nicht weiter, das muss ganz klar sein.“ Auf Basis der bestehenden Daten müsse zielgerichtet gehandelt werden.
Kritik an Corona-Regeln auch von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung
Ebenfalls am Mittwoch hatte eine Gruppe von Ärzten und Wissenschaftlern, zu denen unter anderem Streeck und Schmidt-Chanasit zählen, sich gegen ein breites Herunterfahren des Alltagslebens zur Corona-Eindämmung ausgesprochen. Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, kritisierte: „Eine pauschale Lockdown-Regelung ist weder zielführend noch umsetzbar“, so Gassen. Lesen Sie auch: Corona-Lockdown: Was bei neuen Beschränkungen anders wäre
Man könne nicht das ganze Land „Wochen und Monate in eine Art künstliches Koma“ versetzen, auch angesichts bleibender Schäden für Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft, sagte Gassen.
Unterstützung bekam die Gruppe am Donnerstag im Bundestag von FDP-Chef Christian Lindner. „Diese Gruppe setzt auf Gebote, statt auf Verbote“, sagte der Fraktionschef der Liberalen in der Aussprache nach der Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Die Mediziner appellierten vielmehr an die Vernunft der Menschen, so Lindner.
Drosten: „Dann muss man ‘ne Pause einlegen“
Die Forscher und Ärzte stehen mit ihrem Ansatz im Gegensatz dem, was unter anderem der Leiter der Virologie an der Berliner Charité – Christian Drosten – empfiehlt. Dieser sieht einen zeitlich begrenzten Lockdown bei hohen Infektionszahlen als sinnvoll und geboten an. „Wenn die Belastung zu groß wird, dann muss man ‘ne Pause einlegen“, hatte er in der am Dienstagabend veröffentlichten Folge des „Coronavirus-Update“ von NDR-Info gesagt.
„Dieses Virus lässt nicht mit sich verhandeln. Dieses Virus erzwingt bei einer bestimmten Fallzahl einfach einen Lockdown“, so Drosten.
Sorgen der Intensiv- und Notfallmedizin
Drosten erhält Zuspruch von mehreren Seiten. Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) sagte, er beobachte die überproportional steigenden Fallzahlen mit großer Sorge. Noch seien genug Intensivbetten in Deutschland frei. Doch es gebe die Befürchtung, bei weiter steigenden Infektionszahlen die intensivmedizinische Versorgung bald nicht mehr in vollem Umfang gewährleisten zu können. Lesen Sie auch: Wie nah ist der Lockdown: Altmaier? „Lage ist dramatisch“
Mit einem YouTube-Video wandte er sich an die Bevölkerung. Darin bittet er darum, Kontakte zu minimieren, größeren Veranstaltungen fernzubleiben und die Teilnahme an Festen zu vermeiden. „Ohne Ihre Hilfe werden wir es nicht schaffen!“, so Janssens.
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Appell von Leopoldina und fünf Forschungsgemeinschaften
Darüber hinaus hatten mehrere Akademien und Forschungsgemeinschaften am Dienstag eine drastische Reduzierung von sozialen Kontakten in der Corona-Krise gefordert.
Notwendig sei angesichts steigender Infektionszahlen eine Verringerung der Kontakte ohne Vorsichtsmaßnahmen auf ein Viertel, nach bundesweit einheitlichen Regeln, heißt es in der Erklärung der Deutschen Nationalen Wissenschaftsakademie Leopoldina, der Deutscher Forschungsgemeinschaft, der Fraunhofer-Gesellschaft, der Helmholtz-Gemeinschaft, der Leibniz-Gemeinschaft und der Max-Planck-Gesellschaft.
Kontakte, die ohne geltende Maßnahmen stattfinden
Gemeint sind damit Kontakte, die ohne die aktuell geltenden Hygiene- und Vorsichtsmaßnahmen stattfinden. Nach drei Wochen einer entsprechenden Senkung der Kontakte sei es entscheidend, die dann erreichte niedrige Fallzahl mit bundeseinheitlichen und konsequent verfolgten Schutzmaßnahmen zu halten.
„Je früher eine konsequente Reduktion von Kontakten ohne Vorsichtsmaßnahmen erfolgt, desto kürzer können diese andauern und desto weniger psychische, soziale und wirtschaftliche Kollateralschäden werden diese verursachen“, so die Forschungsgemeinschaften. (mit dpa)